Religionsunterricht für alle!

Schwarz-Rot will in Berlin den Religionsunterricht als ordentliches Schulfach einführen. Deshalb wird wieder einmal heftig über die Religionskunde an Schulen gestritten. Eine Intervention.

„Ach, deine Frau ist Pfarrerin? Katholisch oder evangelisch?“ Diese Frage bekomme ich ziemlich regelmäßig gestellt. — So viel zum Stand der Religionskunde in einer Region, in der 95 % der Schüler:innen den Ethik-Unterricht anstelle eines konfessionellen Religionsunterrichts besuchen. Die Region ist Ostdeutschland, was erklärt, warum hier gewonnene Erkenntnisse nur selten den Weg in deutschlandweite Debatten finden. Nun also wieder: Streit um den Religionsunterricht.

Anlass ist diesmal das Ansinnen der sich formierenden schwarz-roten Koalition in Berlin, den Religionsunterricht als ordentliches Schulfach ab der 7. Klasse einzuführen. Wie am Donnerstag bekannt wurde, soll ein neues Modell des Religionsunterrichts im sog. „Wahlpflichtbereich“ angeboten werden. Das Fach „Religionen / Weltanschauungen“ sei dabei bewusst im Plural formuliert, erklärt Marcel Hopp, Sprecher der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Wie auch in anderen Bundesländern sollen die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an der Durchführung beteiligt werden. Das neue Angebot soll das Religionsunterrichtsangebot in den Randstunden ersetzen.

Ansonsten ist so ziemlich alles unklar, was sich aus dem Vorschlag an Konsequenzen ergäbe: Gibt es für das neue Schulfach eine höhere Nachfrage als im bisherigen Modell? Wer soll den Unterricht erteilen? Wie und in welcher Höhe werden die Religionsgemeinschaften für von ihnen abgestellte Lehrkräfte kompensiert? Braucht Berlin jetzt mehr Religionslehrer:innen? Wenn ja, wer bildet die aus? Nach welchem Konzept und Lehrplänen soll unterrichtet werden?

Und was sagen die Kirchen eigentlich zu den Plänen? „Erfreulich“ findet Harald Geywitz, der Präses der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), die „ersten Hinweise aus den Koalitionsverhandlungen“: „Mehr Chancen auf Religionsunterricht wären eine sehr gute Sache für die Schülerinnen und Schüler.“ Doch sieht Geywitz gegenüber der Eule auch die Herausforderungen, die sich durch einen Modellwechsel ergeben: Dann „wäre unsere Verantwortung als Kirche selbstverständlich, die notwendigen Lehrkräfte zu gewinnen und zu halten“. Dies sei „bisher schon ein Kraftakt“, man sei auf diesem Gebiet allerdings „gut unterwegs“.

Im Konzert der Vorschläge für bessere Schulen in der Hauptstadt spielt der neue Religionsunterricht sowieso eine untergeordnete Rolle. Berliner Eltern und Schüler:innen dürfte viel eher der geplante Wegfall der Extra-Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss (MSA) in der gymnasialen 10. Klasse freuen. Auch der Schulbau soll beschleunigt und deutlich besser finanziell ausgestattet werden. Im Bündel der Maßnahmen stecken auch eine Verstärkung der Sozialarbeit für Kitas und eine „verschärfte Vorschulpflicht“, mit deren Hilfe sichergestellt werden soll, dass weniger Kinder als bisher ohne Deutschkenntnisse auf die Schule kommen (bisher 2000-3000 Kinder pro Jahr). Alles in allem tragen die Vorschläge weniger eine klare christ- oder sozialdemokratische Handschrift, sondern sind von Pragmatismus geprägt.

Ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess

Besonders kontrovers aber wird die erstmalige Einführung eines in Kooperation mit den Kirchen durchgeführten ordentlichen Religionsunterrichts diskutiert. In die Diskussion mischen sich wie üblich religionskritische Überzeugungen und religionsfeindliche Ressentiments, geprägt ist die Debatte vor allem von eigenen subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen an den eigenen Religions- oder Ethikunterricht.

Die Diskussion hängt sich an den Berliner Koalitionsverhandlungen auf, aber ist an und für sich eine Reprise der jährlich wiederkehrenden Religionsunterrichtsdebatte. Die wiederum ist Teil eines größeren gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses darüber, welche Rolle die Religion und insbesondere die Kirchen in unserer pluralen Gesellschaft in Zukunft noch spielen sollen – und wie eng die Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften angesichts religiöser Pluralität und Konfessionslosigkeit gestaltet werden sollte.

Wie weit – neben legitimen Vorbehalten – inzwischen anti-religiöse Ressentiments in die Debatte Eingang finden, zeigt z.B. der Kommentar von ZEIT-Redakteurin Parvin Sadigh („Der Glaube muss raus aus den Schulen!“ (€)). Sadigh arbeitet bei der bürgerlichen ZEIT, die sich immerhin gleich mehrere mit Religion befasste Ressorts leistet, zum Themenfeld Schule. In ihrem Text setzt sie „Bekenntnis“ gleich einmal mit „Überwältigung“ gleich, die in anderen Schulfächern schließlich verboten wäre. „Im Religionsunterricht ist in Deutschland Wissenschaft tabu“, behauptet Sadigh, „Überwältigung, also Bekenntnis, ist das Ziel“.

Das hat mit der Realität des konfessionellen Religionsunterrichts in seinen vielfältigen Formen und Ausprägungen in den deutschen Bundesländern – man muss es einmal so drastisch formulieren – nichts, aber überhaupt nichts zu tun. Religionsunterricht wird von Lehrer:innen erteilt, die an Universitäten und Hochschulen studiert haben, die selbstverständlich wissenschaftlichen Standards genügen: Auch Theologie ist Wissenschaft. Wer der universitär verwurzelten Theologie eben das abspricht, setzt sein eigenes enges Wissenschaftsverständnis („exakte Wissenschaften“) absolut.

Die Lehrpläne des Religionsunterrichtes sehen, bei allen regionalen Unterschieden, denen des Ethik- oder Lebenskundeunterrichtes in vielerlei Hinsicht ähnlich: Hier wie dort geht es um Orientierung in Fragen der Ethik und Lebensgestaltung und um Religionskunde. Beim konfessionellen Religionsunterricht steht darüber hinaus das Kennenlernen und die Reflexion der eigenen religiösen Überzeugungen und Tradition im Fokus. Die Aufklärung über die eigene Religion bereitet dabei vielfach den Boden für das Interesse und die Toleranz gegenüber anderen Glaubenstraditionen. In unserer religionspluralen Gesellschaft ein unschätzbarer Wert.

Die Religionskunde ist in „erschreckendem“ Zustand

Wissen um Religionen, die Religionskunde, gehört dringend dazu, wenn Schüler:innen sich ein zutreffendes Bild von einer Welt machen wollen, in der sich 85 % der Menschen zu einer Religionsgemeinschaft zählen. Dabei geht es nicht nur darum zu lernen, dass es eben keine katholischen Priesterinnen gibt. Und dieses Wissen wird nie wertfrei und unparteiisch vermittelt, auch nicht im Ethik-Unterricht.

Sadigh rekurriert in ihrem Artikel auf die Arbeit der Religionswissenschaftlerin Wanda Alberts, die vor kurzem gemeinsam mit weiteren Wissenschaftler:innen das „Handbuch Religionskunde in Deutschland“ (kostenloser PDF-Download) vorgelegt hat (s. #LaTdH vom 5. März 2023). Dabei gibt sie die Ergebnisse leider nur bruchstückhaft wider: Denn eine zentrale Erkenntnis der Forscher:innen ist, dass die Religionskunde außerhalb des konfessionellen Religionsunterrichts – also im Ethik- und Lebenskundeunterricht etc. – in einem „erschreckenden“ Zustand ist.

Alberts leitet daraus die Forderung ab, man müsse diese Fächer deutlich aufwerten, indem man sie vom Status des „Ersatzfaches“ für den konfessionellen Religionsunterricht befreit. Angesichts dessen, dass im Osten 95 % der Schüler:innen das „Ersatzfach“ anstatt des grundgesetzlich und in den Landesverfassungen verankerten konfessionellen Religionsunterricht besuchen und das Interesse auch im Westen deutlich wahrnehmbar steigt, eine sinnvolle Forderung – aus der sich gleichwohl Konsequenzen für die gesamte Bildungslandschaft ergeben.

Alberts kritisiert im DLF-Gespräch zum Thema zum Beispiel, dass angehende Ethik-Lehrkräfte die religionskundlichen Anteile ihres Curriculums statt an religionswissenschaftlichen Instituten an theologischen Fakultäten oder Instituten belegen. Sie wünscht sich nach skandinavischem Vorbild eine deutliche Aufwertung der Religionswissenschaft. Bisher übernehmen die theologischen Fakultäten und Institute hier Aufgaben, für die an den Universitäten sonst keine Ressourcen bereitgestellt werden. Die Theologie unterscheidet sich von Religionswissenschaft nun allerdings nicht dadurch, dass sie weniger „wissenschaftlich“ wäre, sondern eben dadurch, dass sie nicht nur „aus Interesse an“ einer Religion ausgeübt wird, sondern „im Interesse von“ einer Religionsgemeinschaft – und zumeist von gläubigen Menschen.

Religionsunterricht: Kooperation zum gegenseitigen Vorteil

Über Alberts‘ Vorschläge für eine verbesserte Religionskunde und natürlich auch über den konfessionellen Religionsunterricht kann man trefflich diskutieren. Man kann den konfessionellen Religionsunterricht, wie er in vielen Bundesländern durchgeführt wird, sehr wohl aus guten Gründen kritisieren: Lehrpläne, Lehrer:innen-Bildungsparadigmen, Auswahl der Lehrkräfte, mangelnde Inklusion im Unterricht, seltsame Schwerpunktsetzungen – da kann man gut anknüpfen.

Dabei ist völlig klar: Niemand wünscht sich Glaubenskämpfer:innen im Klassenzimmer, noch Koranschule oder Christenlehre im Schulgebäude. Das hohe Engagement der Kirchen für den Religionsunterricht ist vor allem Ausweis ihres Willens, an der Gestaltung unserer pluralen, demokratischen Gesellschaft teilzunehmen. Deshalb setzen sie sich seit Jahrzehnten – auch das stellt Sadigh in ihrem Kommentar leider irreführend dar – an der Seite der muslimischen Verbände für einen guten islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen ein.

Die Kooperation von Religionsgemeinschaften mit dem Staat bei der Gestaltung von Religionsunterricht diszipliniert beide Seiten: Der Staat verzichtet aus guten Gründen auf den Anspruch, Schüler:innen weltanschaulich und religiös zu indoktrinieren und beteiligt zivilgesellschaftliche und religiöse Akteur:innen auf der Basis einer prinzipiell wohlwollenden Neutralität an der Bildung von Kindern und Jugendlichen. Religiöse Bildung findet nicht in Hinterzimmern statt, sondern an der „frischen Luft“ staatlich regulierter Schulen.

Die Religionsgemeinschaften profitieren doppelt von der Kooperation: Sie können ihren Kirchenmitgliedern und interessierten Eltern und Kindern ein verlässliches und wissenschaftlich verantwortetes Bildungsangebot machen und sehen sich und ihr Denken in eine wohltuende Konkurrenz zu anderen religiösen- und weltanschaulichen Angeboten gestellt, vor deren Hintergrund sie die eigenen Wertvorstellungen und Traditionen reflektieren und darstellen müssen. Religionsgemeinschaften, die im Rahmen der für alle geltenden Gesetze operieren, sollten Platz an unseren Schulen finden.

Was dabei herauskommt

Wie der Religionsunterricht an den Schulen konkret organisiert wird, wird immer wieder neu verhandelt werden müssen. Seine Form wird sich lokalen und gesellschaftlichen Realitäten anpassen, wie es der „Religionsunterricht für alle“ in Hamburg oder Pilotprojekte eines konfessionsverbindenden oder überkonfessionellen christlichen Religionsunterrichts in mehreren Bundesländern versuchen. Die Berliner Bildungspolitiker:innen von SPD und CDU nehmen sich offenbar ohnehin ein Beispiel an der Hamburger Schulpolitik. Vielleicht ist dort ja schon die Berliner Zukunft zu beobachten?

Jenseits ideologischer Vorurteile sind die entscheidenden Fragen doch, wo Kinder und Jugendliche an der Schule einen Ort finden, ethische und lebenskundliche Fragen kennenzulernen und zu reflektieren und sich die für eine multi-religiöse Gesellschaft so dringend notwendige religionskundliche Bildung zu erarbeiten. Der Zustand der „Ersatzfächer“ zeigt an, dass der konfessionsgebundene Religionsunterricht dafür einen im Vergleich verlässlichen Rahmen schafft. Ein Angebot, das Berliner Eltern vielleicht nicht unbedingt ersehnt haben, aber dennoch gerne annehmen.

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