Strukturen des Missbrauchs oder die gewaltsame Verwischung des Ichs

Nach der Ferienpause setzten wir die Traumatherapie fort. Dabei rückte das Problem meiner fehlenden Selbstverständlichkeit respektive der Verlust meines Ichs aufgrund langjährigem Missbrauch und Misshandlung in den Fokus. Dieses Mal besprachen wir den Umstand sehr komplex, so dass viele Aspekte dieser Ichverlorenheit berührt wurden. Ein fehlendes oder unzulängliches Ichverständnis ist bei Überlebenden häufiger anzutreffen. Jedenfalls kenne ich allein eine Handvoll Überlebender, die von dieser Form der Depersonalistation betroffen sind. Davon sind es jedoch nur zwei, die diese Missbrauchsfolge in ihrer Therapie angehen. Beide sind wir im therapeutischen Prozess, doch ob es für den einen oder anderen von uns ein gutes Ende geben könnte, ist offen. Womöglich läuft es darauf hinaus, diese Persönlichkeitsschädigung letztlich soweit annehmen zu können, dass man als „angeknackste“ Persönlichkeit sein Leben annehmlich zu gestalten und die traumatischen Aspekte weitgehend zu reduzieren lernt.

Immerhin besteht bei mir von Jugend an, diese angeknackste Persönlichkeitsstruktur, in der ich mich in Sein und Leid teile, was sich darin äußert, dass ich häufig von einem „Du“ spreche, wenn ich mich meine. Ebenso spreche ich heute noch privat oft verächtlich von diesem „Du“ und stelle es als einfältig hin. Dass ich heute so nur noch in vertrauter Umgebung so spreche, hat damit zu tun, dass mich mal ein Chatfreund irritiert fragte, warum ich mich selbst so miserabel hinstelle, was ich mit mir für ein Problem hätte. Seitdem diszipliniere ich mich. Doch in Momenten, in denen ich unter Vertrauten von mir spreche, nenne ich mich selbst wieder „Du“. Ich empfinde es als die wahre Anrede meinerselbst, mein Selbstverständnis ist ein „Du“, zu dem ich Beobachter bin. Das fällt auch meinen Freunden auf. Einmal bezeichnete mich eine Kollegin in dieser meiner Art als „splendit isolated“ – „herrlich isoliert“; es ist wohl eine so passende wie unpassende Bezeichnung, denn annehmlich ist die Situation für mich und „Du“ nicht, denn der Hintergrund aus dem heraus ich so mit mir agiere, ist ein traumatischer Orkus.

Nachstehend meine Nachbetrachung zur Stunde aus meinem Therapietagebuch vom 12. September.

Ein weiterer Versuch mich zu finden

Schildere meine diffuse Befindlichkeit, die zwischen Depression und Phobie changiert. Die Covidiotie schwingt nach, meine Menschenscheu durchwirkt meine Vorhaben. Ich lege zwei Zeichnungen vor, die zu meiner Selbstwahrnehmung entstanden; eine Schrei, eine Selbsterinnerung. Auf beiden scheint die Person nicht komplett, sondern in Auflösung begriffen. Womit eine weitere meiner Befindlichkeiten während der Ferienpause aufscheint. Es ist die Distanz zu mir selbst, weshalb ich hier im Tagebuch überwiegend von Meinerselbst schreibe. Das Selbst kann ich nicht fassen, meinerselbst (mal groß-, mal kleingeschrieben) lässt mich zu, auch ohne dass ich mir konkret sein muss; es ist das unpräzise Subjekt meiner Selbstwahrnehmung, die Wolke, die mich zum Selbst formt.

Wieder einmal sehe ich durchaus konkret auf „ihn“, auf meinerselbst und stelle fest, dass es eine durch und durch starke und beachtliche Persönlichkeit ist, die sich zudem entwickelt. Es ist der Blick der anderen als auch mein eigener auf mich, der mich darin vergewissert. Zudem gibt es genügend biografische Daten, die Meinerselbst als Person konkretisieren. Gleichwohl bin ich meinerselbst nie wirklich, nie selbstverständlich gewahr, wie das meine Mitmenschen für sich selbst und somit konkretes Ich sind. Ich mag’s nach außen hin sein – ja, bin es unverkennbar – doch für mich selbst, bleibe ich unfassbar. Ja, da ist ein Schmerz von Selbstverlorenheit, es ist schmerzlich für Meinerselbst.

M.R. fragt, ob da nicht auch Angst sei, mich selbst zu behaupten. Ich verneine, auch wenn ich sie in anderem Zusammenhang wiederum im Verlauf der Betrachtung durchaus eingestehe. Es sei vor allem Scham, zu mir zu stehen, zu meinen Talenten zu stehen. Wir sprachen über diesen Moment bereits zwei, drei Stunden zuvor. Wobei die Scham im Grunde eine Fertigkeit sei, mich vor Übergriffigkeiten zu schützen, schließlich hindere sie mich, in den Fokus zu rücken, durch den ich erst recht verletzlich und buchstäblich angreifbar würde. Gewiss hob sein Geschick den intelligenten Buben ohnehin hervor, machte ihn sichtbar. Gleichzeitig war für ihn Sichtbarkeit gefährlich, so griffen die kindsnärrischen Tanten, die den Buben – mich – von einem Schoß zum anderen reichten, ihn knuddelten und busselten, weit darüber hinaus, so dass es ihm zu arg wurde. Ein gemaltes Bild, ein Lied, eine altkluge Betrachtung, halt irgendeine Niedlichkeit, die die Erwachsenen begeisterte, und mein Kreis wurde verletzt. Ich ahnte diesen Kreis zwar, wusste um ihn aber nicht, da er mir von Anfang an wohl verwischt worden war. Zweifellos tat das bereits die Mutter, die große, weiche, warme, lockend und doch abweisend duftende Mamma, die den Buben von klein an dominierte, umschloss, herzte und ihn sich selbst wegnahm. „Ja, sie nahmen mich mir weg“, war meine Rede zu diesem Aspekt der Betrachtung. Oder anders gesagt, man ließ mich nicht in Ruhe, bis ich willfährig wurde, bis ich mich verlor, weil andere mich beherrschten, und ich sie aus Apathie und um meiner Wohlfahrt willen gewähren ließ – doch letztere Gedanken sind die heutigen reflexiven und nicht die des einstigen Kindes, dass sich entäußerte, um zu überleben.

Ja, die Scham bemäntelte die Angst. Besser schämen, als sich zu ängstigen. Dennoch er überragte das Niveau. Er war zu hübsch, zu klug, zu begehrlich, und seine Tarnung war unzulänglich, denn lange garstig konnte er nie sein, es entsprach nicht seinem Gemüt. „Wo denn diese Angst zu spüren sei“, sofern ich mich darauf einließ, ihr nachzuspüren. Ich besann mich und spürte die Angst in meinem Rücken, zwischen den Schulterblättern, dort wo einst das Lindenblatt Siegfrieds Panzer aus Drachenblut unterbrach und ihn verletzlich machte. Eine schöne wie wahre als auch passende Metapher zu einem unangenehmen Gefühl. Konkret war es die Angst vor Berührung, die sich seit Beginn meiner PTBS verfestigt hatte – gar so intensiv, dass ich mich nicht auf Sitzplätze setzen kann, die noch die Sitzwärme des Vorgängers halten.

Ich reflektierte darüber; über den Blick, den gierigen Blick, den Wolfsblick, wenn sie Blut rochen, wenn sie ein verletzliches Kind – mich – sahen; dieser seltsame Glanz, diese seltsame Fokussierung, diese sichtbare Verengung ihres Gemüts, auf die Beute, dieses ich hab dich schon, du gehörst mir, im Blick. Es dürften nur ein, zwei mimische Muskeln sein, die diesen Blick ausmachen, die sich kaum sichtbar bewegen, doch die wächserne Spannung dieses Beuteblicks erkenne ich sofort, ja, könnte sie selbst von einem Foto ablesen. So oft sah ich dieses Beuteflunkern in den Augen von Frauen wie Männern, so oft geriet ich dabei in Verlegenheit, die Verlegenheit, die der Scham folgte, die Verlegenheit des gelobten Kindes, dem Aufmerksamkeit zuteilwurde, das aber darob zu oft auch Gefahr lief, verlegt zu werden. Auch hier eine böse Metapher, bei der ich mich intrusiv im Bett der Mutter sehe, an der Wand liegend, davor das Muttertier mit seinem eigenartigen Geruch, nach Schlaf und Brunft, dem ich nicht entkam. Sie fing mich ein, hielt mich fest beschmuste mich, ich zupfte ihr dann die grauen Haare aus, denn dabei gewann ich etwas Autonomie, ohne zu wissen was das war, nach dem ich mich sehnte, es waren Augenblicke von meinsein – Raum, ein wenig Raum nur – ehe ich wieder verlegt und weggelegt wurde. Ich, das Püppchen. Das leibhaftige Grauen darüber kam erst fünfzig Jahre später.

Doch in dieser Phase lernte und verinnerlichte ich, Marionette zu sein; folgte dem Willen der Puppenspieler, die an meinen Fäden zupften und mich mit dem Spielkreuz führten. So konnte ich verschwinden, indem ich das Spiel der Wölfe spielte, die ihr Pupperl führten. Ich las aus ihren Gesichtern was sie wollten, war es gut, blieb ich; war es schlecht, verschwand ich, in eine Nichtwelt oder wenn möglich in ein reales Versteck. Jedenfalls war ich häufig auf der Flucht. Erwachsen geworden, war ich jedermanns Püppchen; passte mich an Gelegenheiten und Forderungen an, war so ein angenehmes Gegenüber, auch wenn ich ihnen nur spiegelte, was sie in mir sahen. Heute aber sitze ich in einer Traumatherapie – der vierten, zu der mir gerade weitere 36 Stunden von der Kasse genehmigt wurden – und versuche Meinerselbst zu komplettieren, also irgendwie ein Ich zu implementieren.

Dazu ein weiterer Versuch von M.R. mich auf eine Spur zu führen, nachdem ein anderer kurz zuvor daneben ging. Zuerst sollte ich erden, besinnen und in das Empfinden, ganz bei mir zu sein, tauchen und dazu sagen: „Ich bin ganz bei mir“. Ich empfand nichts davon, weder mich, noch ich, noch mir und bin, ergo machte ich daraus einen Scherz, der die Übung persiflierte. Jetzt sollte ich mir selbst meinen Schutzengel imaginieren, wie er meine verletzte Seele ummantelt. Damit konnte ich etwas anfangen, und so fand ich mich in liebevoller Umgrenzung wieder. Ein Schutzraum entstand … Die Erinnerung daran ist noch lebendig.

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