Expertenstimme

Lehrermangel : Ein-Fach-Lehrer – eine einfache Lösung?

Der Lehrermangel ist so groß, dass Unterricht in vollem Umfang nicht mehr überall gewährleistet ist und in einigen Ländern schon mehr Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger als voll ausgebildete Lehrkräfte unterrichten. Was tun in dieser Situation, die sich so schnell auch nicht entschärfen wird? Der Ruf nach Ein-Fach-Lehrkräften ist zuletzt immer wieder laut geworden, also Lehrerinnen und Lehrer, die nicht die bislang obligatorischen zwei Fächer, sondern nur ein Fach unterrichten. Der bekannte Bildungsforscher Klaus Klemm, der sich seit vielen Jahren mit dem Lehrermangel und seinen Auswirkungen beschäftigt, hat sich das Modell Ein-Fach-Lehrer bzw. Ein-Fach-Lehrerin in seinem Gastbeitrag für das Deutsche Schulportal genau angeschaut und analysiert, ob es als Instrument gegen den Lehrermangel taugt.

Klaus Klemm
Lehrerin an Anatomiemodell EIn-Fach-Lehrer
Lehrkräfte, die nur ein Fach unterrichten - seit Jahren ein kontrovers diskutiertes Thema.
©Andrea Obzerova/iStock

Die Ausgangslage ist hinlänglich beschrieben: Die Kultusministerkonferenz (KMK) erwartet, dass bis 2035 insgesamt etwa 24.000 Lehrkräfte fehlen. Ich habe dieser schon bedrückenden Perspektive eine noch ausgesprochen pessimistischere Aussicht gegenübergestellt: Nach meinen Berechnungen ist bis 2035 ein Mangel in Höhe von 85.000 Lehrkräften zu erwarten. Dass es sich bei derartigen Einschätzungen nicht bloß um düstere Zukunftsbilder handelt, zeigen die jährlichen Berichte der KMK: 2019 wurden 3.265, 2020 dann 3.513 und 2021 schließlich 3.130 Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger in den Schuldienst übernommen. Im Schnitt waren dies zwar etwa zehn Prozent aller Neueinstellungen, aber offensichtlich deutlich zu wenig, denn aus allen Bundesländern häufen sich die Berichte über unbesetzte Lehrkräftestellen.

Mit Blick auf die düsteren Prognosen zur Entwicklung auf diesem Arbeitsmarkt wird neuerdings angeregt, die Mangelproblematik durch eine Umorientierung in der universitären Lehrkräfteausbildung zwar nicht aufzulösen, aber doch deutlich abzuschwächen. Vorgeschlagen wird, das in Deutschland tradierte Prinzip der Zwei-Fächer-Lehrkräfte durch die Etablierung einer Ein-Fach-Ausbildung zu ersetzen. „Ich plädiere für die systematische Einführung des Ein-Fach-Lehrers für die Sekundarstufen. Die Ein-Fach-Lehrkraft studiert ein Fach bis zum Bachelor-Abschluss: Für die Studierenden, die das Berufsziel Lehrerin oder Lehrer fest im Blick haben, ist der Raum für begleitende Fachdidaktik groß. … Wer Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe II unterrichten will, müsste das Masterstudium im Fach absolvieren, wer mit der Fixierung auf ein Fach unzufrieden ist, kann selbstverständlich ein zweites Fach studieren“, schreibt zum Beispiel der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Böttcher von der Universität Münster.

Abrücken von Zwei-Fach-Lehrkräfte hätte weitreichende Auswirkungen

Das in dieser Zitierung nur grob umschriebene Modell Ein-Fach-Lehrer bzw. Ein-Fach-Lehrerin kann und muss aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: Hilft es bei der Mangelbewältigung? Wie fügt es sich in die Struktur der Besoldung von Lehrkräften ein? Und nicht zuletzt: Welche Auswirkungen hat es auf die Organisation des Schulalltags und auf die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden?

Hinsichtlich der Frage, ob die Einführung der Ein-Fach-Lehrkraft einen Beitrag zur Mangelbewältigung leisten kann, müssen die einzelnen Lehrämter je gesondert betrachtet werden:

  • Für die Grundschullehrkräfte ist eine Umstellung auf eine Ein-Fach-Lehrkräfteausbildung nicht denkbar, weil für den Grundschulunterricht die Regel gilt, dass die Lehrerinnen und Lehrer nach dem Klassenlehrerprinzip den Unterricht einer Klasse in mehreren Fächern erteilen sollen.
  • Bei den sonderpädagogischen Lehrämtern orientiert sich die Ausbildung der Lehrkräfte nicht an den Unterrichtsfächern, sondern an den Förderschwerpunkten ihrer künftigen Schülerinnen und Schüler (Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung, Sprache usw.). Eine Umstellung auf ein Ein-Fach-Prinzip macht da keinen Sinn.
  • Die Kollegien der berufsbildenden Schulen sind, was ihre Ausbildung angeht, durch eine sehr „bunte“ Zusammensetzung gekennzeichnet. Von den etwa 125.000 Lehrenden dieser Schulen verfügen lediglich gut 40 Prozent über eine auf die beruflichen Schulen vorbereitende Ausbildung. Weitere etwa 25 Prozent sind für den Unterricht in Gymnasien ausgebildet. Etwa 20 Prozent verfügen laut Statistischem Bundesamt über gar keine Lehramtsprüfung.

Diese „bunte“ Zusammensetzung der Kollegien ist auch eine Folge der Schwierigkeit, für die gewerblich-technischen Unterrichtsfächer der Berufsschule Nachwuchs zu finden. Denn für junge Menschen mit einer akademisch erworbenen gewerblich-technischen Qualifikation bestehen zahlreiche attraktive außerschulische Berufswege.

Tatsächlich sind die Ein-Fach-Lehrerin und der Ein-Fach-Lehrer an den beruflichen Schulen aber heute schon Realität. Mir ist nicht bekannt, dass Absolvierenden eines universitären Maschinenbaustudiums der Zugang zum Beruf als Berufsschulehrkraft verwehrt worden wäre, weil sie nur ein Unterrichtsfach vertreten.

Nur bei nicht gymnasialen Schularten der Sekundarstufe I sind Voraussetzungen für Ein-Fach-Lehrer erfüllt

  • Für die Gymnasien gibt es derzeit und nach allen Prognosen auch künftig ein Überangebot ausgebildeter Lehrkräfte. Ein ausgeprägter Lehrkräftemangel besteht in dieser Schulart vor allem bei den MINT-Fächern. Hier gilt – ähnlich wie bei den berufsbildenden Schulen – die Feststellung: Da, wo es für junge Leute einen konkurrierenden außerschulischen Arbeitsmarkt gibt, herrscht Lehrkräftemangel.
  • Lediglich bei dem Lehramt für nicht gymnasiale Schularten des Sekundarbereichs I kommen zwei Elemente zusammen, die eine Voraussetzung für die Ein-Fach-Ausbildung bieten würden: Langfristig fehlen Lehrerinnen und Lehrer für diese Schularten, und die Zwei-Fächer-Lehrkraft ist dort die Regel.

Insgesamt zeigt diese Übersicht, dass die Zahl der Lehrämter, in denen ein Lehrkraftmangel durch die Einführung des Ein-Fach-Ausbildung möglicherweise behoben werden könnte, überschaubar ist: Wenn überhaupt, wären Effekte bei den MINT-Lehrkräften der Gymnasien und bei allen Lehrkräften der Bildungsangebote der nicht gymnasialen Sekundarstufe I zu erwarten.

Lehrerinnen und Lehrer, die im Rahmen einer Ein-Fach-Ausbildung eines der „kleinen“ Fächer studiert hätten, wären in keiner Klasse der Sekundarstufe I mehr als zwei Wochenstunden vertreten. Dies würde eine pädagogisch zu verantwortende Klassenleitung nahezu ausschließen.

Maßnahmen, die sich auf diese Lehrämter konzentrieren würden, blieben aber über das „Bedienen“ des Arbeitsmarktes hinaus nicht ohne wesentliche Auswirkungen:

  • Folgt man der Modellskizzierung, die Böttcher in seinem zitierten Vorschlag präsentiert, so würde die Ein-Fach-Lehrkraft mit Abschluss der Bachelor-Phase, also nach drei Studienjahren, den Zugang zum Vorbereitungsdienst Dies würde zwangsläufig eine Debatte darüber auslösen, ob denn eine Lehrkraft mit „nur“ dreijähriger universitärer Ausbildung die Besoldung erhalten könne, die einer Lehrkraft mit einer fünfjährigen universitären Ausbildung zusteht – eine Debatte, die viele Jahre die Besoldung von Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern geprägt hat.
  • Der kritische Blick auf die Ein-Fach-Lehrkräfte macht für den Unterricht in der Sekundarstufe I auf ein weiteres Problem aufmerksam. In allen Bundesländern sind zahlreiche Unterrichtsfächer (z. B. Biologie, Physik, Chemie, Erdkunde und Geschichte) in den sechs Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I mit maximal zwei Wochenstunden je Jahrgangsstufe vertreten. Lehrerinnen und Lehrer, die im Rahmen einer Ein-Fach-Ausbildung eines dieser „kleinen“ Fächer studiert hätten, wären in keiner Klasse der Sekundarstufe I mehr als zwei Wochenstunden vertreten. Dies würde eine pädagogisch zu verantwortende Klassenleitung nahezu ausschließen – unter anderem mit der Folge, dass Klassenleitungen nur noch von den Lehrkräften übernommen werden könnten, die Vier-Stunden-Fächer studiert haben, also in erster Linie von Lehrkräften mit einer Lehrbefähigung für Deutsch, Mathematik oder eine Fremdsprache.
  • In der Ausbildung von Lehrkräften für die Gymnasien und die allgemeinbildenden Fächer der Sekundarstufe II würde sich beim Ein-Fach-Lehramt, das nach dem Vorschlag Böttchers in der Masterphase fortgesetzt würde, mit Blick auf Mangelfächer die Frage nach der Studienzeit stellen. Wenn man vereinfachend davon ausgeht, dass beim tradierten Studium für jedes von zwei Unterrichtsfächern 40 Prozent und für das bildungswissenschaftliche Begleitstudium 20 Prozent der Studienzeit aufgebracht werden muss, käme der Ein-Fach-Lehrer oder die Ein-Fach.Lehrerin im Studium für das Lehramt der Sekundarstufe II auf 60 Prozent der Studienzeit, bei einer Studienzeit von bisher zehn auf nur noch sechs Semester. Auch hier würde es nicht lange dauern, bis Finanzpolitiker Konsequenzen für die Besoldung fordern würden.

Eine Möglichkeit: später das Staatsexamen im zweiten Fach nachholen

Lediglich in einer spezifischen Konstellation würde sich bei Fächern mit hohem Lehrkräftemangel ein besonderer Weg der Reduzierung der Unterrichtsfächer anbieten: Ende der 60er-Jahre war es in Nordrhein-Westfalen für einige Jahre möglich, dass Lehramtsstudierende, die in einem einzelnen Unterrichtsfach (z. B. Mathematik) ihr erstes Staatsexamen absolviert hatten, in den Vorbereitungsdienst eintraten und dann irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt ihr Staatsexamen im gewählten zweiten Unterrichtsfach „nachholen“ konnten. Dieser Weg böte auch in unseren Tagen die Möglichkeit, Mangelsituationen zumindest für eine begrenzte Zeit abzuschwächen. Mehr aber auch nicht.

Zur Person

Klaus Klemm
©privat
  • Klaus Klemm lehrte von 1977 bis 2007 als Professor für empirische Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen. Zuvor hat er ein Lehramtsstudium sowie ein Studium der Wirtschaftswissenschaften absolviert.
  • Der renommierte Bildungsforscher hat zahlreiche Studien veröffentlicht – vor allem gilt er als Experte für den Lehrerarbeitsmarkt. Zuletzt hat er Anfang 2022 eine Berechnung zur Lehrerbedarfsplanung vorgelegt. Danach fehlen bis 2030 mindestens 81.000 Lehrkräfte – weit mehr als die Kultusministerkonferenz vorausgesagt hat.
  • Er war Mitglied in vielen wichtigen Gremien, z. B. im wissenschaftlichen Beirat der PISA-Studien und im Beirat für die Deutsche Bildungsberichterstattung. Dabei war er auch an der Erstellung einiger Bildungsberichte beteiligt.

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