Blick auf die Zentrale der Wagner-Truppe in St. Petersburg (Russland)

Selbstjustiz bei der Wagner-Gruppe Desertiert, verfolgt, umgebracht

Stand: 19.01.2023 14:33 Uhr

Seit Monaten wirbt die russische Wagner-Gruppe Häftlinge für den Kampf in der Ukraine an. Wer insgeheim plant, zu desertieren, der soll durch martialische Strafen abgeschreckt werden. Ein Fall sorgt für besonderes Aufsehen.

Es sind Bilder des Grauens, die da durch das Internet geistern. Bilder, die Hinrichtungen zeigen sollen von Söldnern der Gruppe Wagner. Männer, die beim privaten Militärdienstleister für den Einsatz in der Ukraine unterschrieben hatten, es sich anders überlegt und sich den ukrainischen Streitkräften ergeben hatten.

Der bekannteste und wohl auch grausamste Fall: Jewgenij, ein ehemaliger Häftling. Desertiert, ausgetauscht, erschlagen.

Ein Handel und seine Folgen

Jewgenijs Einsatz in der Ukraine soll am 2. September vergangenen Jahres begonnen haben. Der verurteilte Mörder hatte sich auf einen Handel mit der Wagner-Truppe eingelassen - vorzeitige Haftentlassung gegen Kampfeinsatz in der Ukraine. Am 4. September sei er zur ukrainischen Seite übergelaufen und habe sich ergeben.

Das erzählt der magere Mann einer Journalistin, die ihn in ukrainischer Kriegsgefangenschaft interviewte. Das Interview, das sich seit Herbst mehr als zehn Millionen Menschen angeschaut haben, gibt einen seltenen, wenn auch subjektiven Einblick in das Innenleben verzweifelter Menschen, für die das Versprechen der Wagner-Gruppe, nach sechs Monaten Kriegseinsatz freizukommen, wie eine letzte rettende Hand scheint.

Gleich zu Beginn des Interviews stellt die Journalistin eine Frage, die für Jewgenij später zum Verhängnis werden soll: "Sie sind nicht dagegen, wenn ich ihnen Fragen mit der Kamera stelle und das Video später veröffentliche, oder?" Der vermeintliche Wagner-Milizionär antwortet, es mache ihm nichts aus.

Sichtbar geworden - auch für die Wagner-Truppe

Damit hat Jewgenij ein Gesicht und eine Geschichte, auch für die Wagner-Truppe. Unter dem YouTube-Video steht noch eine ukrainische Nummer des Programms "Ich möchte leben". Unter dieser Nummer können sich russische Soldaten, die desertieren möchten, bei ukrainischen Behörden melden.

Doch statt ein Leben und Sicherheit zu bekommen, geistert gut einen Monat nach der Veröffentlichung ein weiteres Video von Jewgenij durch das Internet. Es zeigt die mutmaßliche Hinrichtung des Deserteurs. Dieser war offenbar nach der Aufzeichnung des Interviews im Rahmen eines Gefangenenaustausches zurück nach Russland gekommen.

Dort erwartete ihn die Strafe für das, was der Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin in einem vermeintlichen Rekrutierungsvideo einst als "erste Sünde" im Kampfeinsatz aufgezählt hatte: "Niemand gibt auf."

Offenbar kein Einzelfall

Olga Romanowa arbeitet für die Gefangenen-Organisation "Russland hinter Gittern". Auch sie kennt Videos wie das von der vermeintlichen Hinrichtung Jewgenijs.

In einem Interview mit dem russischen YouTube-Kanal "Breakfast Show" vergangene Woche, sprach sie davon, dass ihr insgesamt vier außergerichtliche Hinrichtungen bekannt seien. Dabei sei Menschen in den Hinterkopf geschossen worden, einer sei am Balken erhängt worden, erzählt Romanowa.

Geschichten wie die von Jewgenij und den anderen mutmaßlichen Hinrichtungen machten in russischen Gefängnissen die Runde und hätten, so die Menschenrechtsaktivistin, dazu geführt, dass sich immer weniger Häftlinge freiwillig für den Einsatz in der Ukraine meldeten. Früher hätten dort 200, 300 Gefangene Verträge mit dem privaten Militärdienstleister Wagner unterschrieben, plötzlich seien es nur noch 20 oder 30 gewesen.

Auch deshalb würden jetzt andere Videos die Runde machen, erzählt Romanowa in dem Interview: Videos, die zeigen sollen, wie Wagner-Gruppen-Chef Prigoschin Häftlinge wie versprochen nach dem sechsmonatigen Kriegseinsatz in die Freiheit entlässt.

Eine PR-Aktion?

An der versprochenen Amnestie hat Romanowa zwar ihre Zweifel, da auch in Russland Geschäftsleute nicht einfach begnadigen könnten und zudem die dafür notwendigen Papiere erklärliche Daten enthalten hätten. Doch um eine echte Amnestie gehe es auch gar nicht, vermutet die Chefin von "Russland hinter Gittern".

Für Romanowa gleichen die jüngsten Videos und Gerüchte, man dürfe nach dem Kriegseinsatz sogar an renommierten russischen Universitäten ohne Zugangstests studieren, eher einer PR-Aktion: "Jetzt werden wir wieder viele Menschen sehen, die bereit sind, an der Seite von Prigoschin in den Krieg zu ziehen."

Jewgeni Prigoschin

Prigoschin leugnete lange, etwas mit Wagner zu tun zu haben. Inzwischen positioniert er sich mit der Söldnertruppe mitten im Kriegsgeschehen.

Flucht über das Eis

Manche werden, wie Jewgenij, versuchen zu fliehen. So soll in dieser Woche Andrej Medwedjew, Kommandeur einer der Wagner-Einheiten, über die Grenze von Russland nach Norwegen geflohen sein. "Als ich auf das Eis trat, hörte ich einen Hund bellen", erzählte Medwedjew danach gegenüber dem YouTube-Kanal Gulagu.net.

Er sei geflohen, weil sein Leben in Gefahr gewesen sei, sagt der ehemalige Wagner-Mitarbeiter. "Mir war mein 'Arbeitgeber' auf der Spur: Prigoschin und seine Bande. Auch der russische Geheimdienst FSB."

Es hätte die Gefahr bestanden, verhaftet und ebenfalls umgebracht zu werden: "Erschossen, oder noch schlimmer - mit dem Hammer erschlagen", sagt Medwedjew und spielt damit auf den Fall Jewgenij an.

Eine Quelle für die Sicherheitsbehörden?

Er selbst habe versucht, nicht an solchen "Aktivitäten" teilzunehmen, sagt Medwedjew. Aus der Ferne habe er aber alles "gut sehen können". Mit den norwegischen Behörden will er nun zusammenarbeiten und verspricht auch, mit ihnen Informationen zu vermeintlich stattgefundenen Hinrichtungen bei der Wagner-Gruppe zu teilen.

Nicht nur norwegische Behörden haben mittlerweile bestätigt, dass Medwedjew in Norwegen Asyl beantragt hat. Auch Wagner-Gruppen Chef Prigoschin hat sich zu dem Fall bereits geäußert. Er bestätigte auf seinem Telegram-Kanal, dass Medwedjew Mitglied seiner Truppen gewesen sei, fügte aber hinzu, dass er wegen "versuchter Misshandlung von Gefangenen" strafrechtlich verfolgt hätte werden müssen: "Seien Sie vorsichtig, er ist sehr gefährlich."

Im Jahr 2011 serviert der Unternehmer und Restaurantbesitzer Jewgeni Prigoschin dem damaligen Ministerpräsidenten Putin in seinem Restaurant bei Moskau das Essen. (Archivbild)

Auch wenn Putin hier skeptisch blickt: Die Nähe zum Präsidenten ermöglichte dem ehemaligen Restaurantbesitzer Prigoschin viele Verdienstmöglichkeiten und einen steilen Aufstieg im Machtgefüge Russlands.

Die Verlockung der Haftverkürzung

Der mittlerweile offenbar hingerichtete Jewgenij hatte, als er bei der Wagner-Gruppe unterschrieb, offenbar schon fast seine gesamte Haftstrafe abgesessen. 1999 war er zu 24 Jahren wegen Mordes verurteilt worden.

Dieses Jahr hätte eigentlich sein letztes sein können, hätte er nicht mit drei Mitgefangenen einst versucht, aus der Haftanstalt in Nischni Nowgorod zu fliehen. Zwei der Gefangenen kamen dabei ums Leben, Jewgenij aber überlebte und bekam vier Jahre obendrauf. Fünf Jahre hätte er also noch warten müssen, bis er freigekommen wäre.

Doch so verlockend, wie die versprochene "Abkürzung" im Rahmen eines Wagner-Einsatzes auch sei, warnte Jewgenij noch ganz am Ende seines Interview mit der ukrainischen Journalistin ganz ruhig, so gefährlich sei sie auch.

Zuhause, Arbeit, Familie - das zähle, wolle er seinen Söhnen noch sagen, nicht Krieg. Für die anderen Gefangenen habe er einen Rat: Sie sollten nicht in den Krieg ziehen, sondern lieber bis zum Stichtag im Gefängnis sitzen und dann nach Hause gehen.