Der Hai im System – brillanter Roman über toxische Männlichkeit

Buchcover: Der Hai im System

Die Abgründe uns fremder Menschen erblicken wir nur selten. Kurt Palm eröffnet in seinem neuen Roman Der Hai im System neue Perspektiven und die erschreckenden Innenleben von drei Menschen, deren Wege sich kreuzen. Der Autor ist ein Meister der Spannung – wie ein Thriller liest sich dieser Roman, der im Galopp auf die Katastrophe zusteuert. Ein Buch, das tief in die Abgründe seiner Figuren blicken lässt und die Auswüchse toxischer Männlichkeit haarsträubend vor Augen führt.

Auswüchse toxischer Männlichkeit

Die Lehrerin Franziska Steinbrenner hat endlich den Sorgerechtsstreit um ihre Tochter gewonnen. Sie unterrichtet in einer sogenannten »Problemschule« und verzweifelt am Bildungssystem. Der Polizist Philip Hoffmann befindet sich in einem Liebesdilemma. Obwohl seine Frau von ihm schwanger ist, hat er mit einer mysteriösen Fremden eine Affäre begonnen. Diese droht jetzt, »die Bombe platzen zu lassen.« Währenddessen sitzt ein Mann in einer Wohnung und denkt über sein gescheitertes Leben nach. Neben ihm lehnt ein Sturmgewehr StG 77 mit 42 Kugeln im Magazin. Weder die Lehrerin noch der Polizist oder der Mann sind sich jemals zuvor begegnet, aber an diesem einen Tag spitzen sich die Ereignisse auf fatale Weise zu.

Kurt Palm: 1955 in Vöcklabruck geboren, lebt als Autor und Regisseur in Wien. Palm wurde mit der gefeierten TV-Produktion „Phettbergs Nette Leit Show“ (1994-96) bekannt. Sein Bestseller „Bad Fucking“ (Residenz 2010) wurde 2011 mit dem Friedrich GlauserPreis für den besten deutschsprachigen Krimi des Jahres ausgezeichnet und war auch als Film erfolgreich. Zuletzt
erschienen seine Romane „Strandbadrevolution“ (Deuticke 2017) und „Monster“ (Deuticke 2019). www.palmfiction.net

Fazit: Es menschelt unter den Haien

Ich kannte Kurt Palm nicht. Der Buchrücken mit der Beschreibung toxischer Männlichkeit machte mich sehr neugierig. Ist ein wichtiges Thema, mit dem ich mich in letzte Zeit immer wieder tief auseinandersetze. Nicht, dass ich unbedingt selber etwas damit zu tun hätte, aber ich bin ein Mann, lebe im Patriarchat und bin beispielsweise durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch von toxischer Männlichkeit bedroht. Und selbstverständlich entdecke ich in mir auch einige Abgründe.

Das Buch sei „ein aufwühlender Thriller“, so der Buchrücken. Und in der Tat: Die ersten Sätze, die ersten Seiten, das erste Kapitel fesselten mich. Dies ist für mich ein untrügliches Zeichen für die Qualität des Werks. Dass der Autor auch Regisseur ist, merkt man im Aufbau und in den Bildern dieses Romans.

Da werkelt ein offenbar Wahnsinniger, ein Kerl in seiner abgedunkelten Bude an irgendeiner Scheiße, die er andeutet. Vermutlich hat er schon eine Frau getötet. Man muss weiterlesen, um das herauszufinden. Im nächsten Kapitel allerdings befinden wir uns mitten in eine Schulklasse voller Migranten-Kids, die sich gegenseitig bekämpfen. Im Mittelpunkt hier steht die tapfere Lehrerin Franziska Steinbrenner und die 14-Jährige Haniya. Das ist schon sehr lustig beschrieben, aber mit einer Selbstverständlichkeit und Präzision, mit einer klaren, einfachen und dennoch intensiv erzählenden Sprache, dass man sich an den großen Erzähler Robert Seethaler erinnert fühlt.

Diese Lehrerin lebt in Trennung und hat gerade dem Vater ihrer Tochter das Sorgerecht entziehen lassen, offenbar, weil er einen an der Waffel hat und unberechenbar ist. Nun macht sie sich natürlich sorgen, dass dieser Mann ausflippt wegen dieser Niederlage im Familiengericht. Unberechenbar scheint er. Er wird es sein, mit dem der Titel „Hai“ verknüpft ist.

Und so geht es weiter. Es folgt ein weiteres Kapitel in einer ganz anderen Umgebung, neue Figuren und Geschichten, die uns eigenartig bekannt vorkommen. Drei Hauptfiguren sind es, die hier aufeinander zu erzählt werden ohne zunächst, dass wir uns dessen bewusst sind. Aber ich will hier wirklich nicht spoilern und zu viel verraten.

Da gibt es da diesen Polizisten mit einer hochschwangeren Frau. Zufällig landet er in einer Affäre mit einer krassen, offenbar sexsüchtigen Vollzeitchaotin. Ich WhatsApp-Dialoge der beiden sind beängstigen realistisch. Mir jedenfalls kommen die sehr bekannt vor. Diese Un-Kommunikation, dieses chaotisch-unverständlich-unverbindliche im Ton. Und wie der Polizist sich aus der destruktiven Sex-Affäre lösen will ohne in Gefahr zu geraten, dass seine Frau davon Wind kriegt. Ich finde es lediglich zu bemängeln, dass er gleich an Totschlag, an Mord denkt, anstatt die Sache weiter langsam eskalieren zu lassen. Aber ich spoiler hier. Das will ich nicht.

Ich fühle mich selber irgendwie integriert in diese packenden Geschichten. Das ist erstaunlich. Nicht die Helden sind mir nah und es ist auch keine Identifikation, es ist eher, als wäre ich Teil dieser Geschichte, Teil der Nachbarschaft, irgendwie dabei, obwohl mir klar ist, dass ich durch dieses Buch wie durch ein großes Schaufenster auf die Geschichten schaue und gänzlich unbeteiligt bin. Wirklich? Wirklich unbeteiligt. Es kommen einen Zweifel, denn die Figuren sind Menschen unserer Zeit, unserer Gesellschaft. Und wir sind Kinder unserer Zeit und dieser Gesellschaft. Wir sind nicht nur ein Teil von ihr – sie ist ein Teil von uns. Vielleicht ist das die große Kunst in diesem … Thriller.

Die Figuren, die seltsamen, kritischen, banalen Figuren werden zu einem Höhepunkt hin erzählt, an dem sie sich alle treffen oder gemeinsam ins Unglück fallen, wenn sie da nicht schon längst gelandet sind.

Kurt Palm versteht sein Handwerk sehr gut. Ein Buch für nach dem Sommer, wenn das Schöne hinter uns liegt und wir nicht wissen was folgt im Herbst. Lesetipp!

Der Hai im System

von Kurt Palm
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288 Seiten, Leykam (13. August 2022)
ISBN 3701182396
Gebundenes Buch 23,- Euro

Leseprobe Der Hai im System

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