Original-Test Mercedes 500 E
W 124 mit Fünfliter-Vierventil-V8

Für solvente Freunde perfekten Understatements hält Mercedes-Benz eine Überraschung bereit: den Fünfliter-Vierventil-V8 aus dem SL im braven Gewand der Mittelklasse-Limousine W 124. auto motor und sport kostete 1990 von der neuen Mixtur.

Mercedes 500E 22 1990
Foto: Hans Peter Seufert

Die Bandbreite einer Automobilbaureihe, sie hat eine neue Dimension. Bei Mercedes reicht sie nun von den 75 Pferdestärken und 42.636 Mark des bäuerlichen 200 D bis zu jenen ganz frischen, auf dem Pariser Salon erstmals präsentierten 326 PS und 134.520 Mark, die der 500 E, "Star von Paris" (Mercedes-Pressemitteilung), künftig in den Raum stellt. Das rechte Auto zur rechten Zeit? Wohl kaum. Doch mehr als praktischer Nutzen zählt auch hier der Imagewert, der durchaus bis zum braven Diesel abstrahlen mag. Außerdem zeigt das Projekt, was machbar ist, wenn Mercedes-Techniker und solche von Porsche in schwäbischer Solidarität zusammen tüfteln. Denn Porsche war beteiligt am Über-Mercedes 500 E, konstruktiv in der Anpassung des mächtigen Achtzylinders, auch bei der Fahrerprobung in der Entwicklungsphase des ungestümen Biedermanns. Und Porsche wird auch weiterhin beschäftigt sein: Der 500 E ist der erste Mercedes, der – vorwiegend in Handarbeit – aus Kapazitätsgründen beim Teil-Rivalen Porsche montiert wird. Ein rundes Dutzend Autos soll pro Tag in Zuffenhausen entstehen – mit angelieferten Rohkarossen aus Sindelfingen, die hier modifiziert, bei Mercedes lackiert werden und schließlich wiederum in Zuffenhausen zur Endmontage kommen. Auslieferung bleibt Sindelfingen – das wäre ja noch schöner.

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Mercedes 500E 22 1990
Daimler
Der Fünfliter-Achtzylinder stammt aus dem SL.

Was da ausgeliefert wird, hat der Mit-Produzent und Konkurrent Porsche vom optischen Erscheinungsbild her sicher nicht zu fürchten. Brav und mit nur zart angedeuteten Kotflügelverbreiterungen steht der 500 E auf seinen Walzen des Formats 225/55 ZR 16, die er vorn mit einer um 37 Millimeter und hinten um 38 Millimeter verbreiterten Spur und einer um 23 Millimeter abgesenkten Karosse zur unauffälligen Schau trägt. Auch direkt von vorn betrachtet bedarf es schon des viel zitierten Kennerblicks, um Identitätsprobleme auszuschließen. Immerhin, eine neue Bugschürze, nicht unbeteiligt am guten cw-Wert von nur 0,31, und ausgebaute Illuminationsmöglichkeiten mit Nebelscheinwerfern unter dem Spoiler und Fernlichtspots jeweils neben den Hauptscheinwerfern zeugen nicht nur von praktischen Verbesserungen, sondern auch vom Wunsch nach optischer Andersartigkeit. Gleichwohl, das womögliche Ziel im Lastenheft, den unscheinbarsten PS-Boliden aller Zeiten auf die Räder zu stellen, ist zweifellos gelungen.

326 PS bei 5.700 Umdrehungen

Wie auch immer man den 500 E betrachtet – er ist beileibe nicht das, was den Menschen erregt, und auch nicht das, worüber er sich erregt. Brav und, wäre er ein Mensch, ein bisschen wie ein übergewichtiger Onkel steht er in der Landschaft und kommt so kaum umhin, den fehlenden Worten Taten folgen zu lassen. Dafür ist in erster Linie der genau 4.973 Kubikzentimeter messende V8-Vierventiler zuständig, der sonst nur noch im 500 SL anzutreffen ist. Für den Einsatz im 500 E musste nicht nur der Motorraum erweitert und mit höheren Materialstärken und größeren Querschnitten angepasst werden, sondern auch der Achtzylinder selbst.

Mercedes 500E 22 1990
Hans Peter Seufert
500 E-Interieur: Nüchternheit auch mit Sportlenkrad und Wurzelholz.

So sorgen längere Saugrohre und eine modifizierte Einspritzanlage (LH-Jetronic statt der kontinuierlichen KE-Jetronic) für eine Steigerung des maximalen Drehmoments um 30 auf insgesamt 480 Newtonmeter bei gleichgebliebener Spitzenleistung von 326 PS bei 5.700 Umdrehungen. Ehrlich gesagt, das 2 CV-Drehmoment, das nun annähernd zwischen 500 SL und 500 E liegt, geht unter in allgemeiner Durchzugsfülle. Hier herrscht Verschwendung oder, positiver formuliert. Kraft in Hülle und Fülle. Um diesen Eindruck zu erwecken, bedurfte es nicht eines Schaltgetriebes. Serienmäßig ist eine Viergangautomatik vorgesehen, die das "bärenstarke" Auto (Pressetext) zu dem macht, was es sein soll: beschleunigungsstärker noch als ein 500 SL. Die Werksangaben, die auto motor und sport mit einem späteren Test überprüfen wird, weisen den Weg. Null auf 100 km/h in sechs Sekunden, ein Kilometer mit stehendem Start 25,6 Sekunden, Höchstgeschwindigkeit 250 km/h und die für Tempokraten beruhigende Gewissheit, dass ohne elektronische Begrenzung des Maximaltempos noch mehr drin wäre.

Bis zu 284 km/h theoretisch möglich

Mit der recht kurz gehaltenen Achsübersetzung 2,82:1 würde der riesige V8 erst bei Tempo 260 ausdrehen und damit so schnell sein wie einst der Rennsportwagen Porsche 904. Und wenn man länger übersetzte, dann würde der brav aussehende 500 SE mit 284 km/h gar so fix wie einst der Mercedes-Weltmeister-Formel 1 von 1954. Dafür brachte es der Fortschritt mit sich, dass der 500 E nicht im entferntesten so laut ist wie der frühere Silberpfeil. Nach dem Anlassen ertönt ein dezentes Murmeln aus dem vollgepackten Maschinenraum, und auch unter Last werden sich alle Verbrennungsgeräusch-Fetischisten betrogen fühlen. Nichts hämmert, ballert, seufzt und röchelt. Nichts erinnert freilich auch akustisch an das vergleichsweise Schwachbrüstige eines vierzylindrigen 230 E. Eine dem Ohr auch auf langen Strecken behagliche Musik ist hier entstanden, nicht aufdringlich, aber auch phonetisch jene energische Bestimmtheit präsentierend, die den 500 E nicht nur im Vorwärtsgang auszeichnet.

Mercedes 500E 22 1990
ams
Der Originalartikel erschien am 19. Oktober 1990 in Ausgabe 22.

Die größte Überraschung bei diesem neuen Mercedes scheint nicht, wie zunächst erwartet, die Leistungsfähigkeit, sondern der Federungskomfort. Die Neuabstimmung des Fahrwerks, das mit erheblich gestiegenen Achslasten (vorn 120 Kilogramm, hinten, zusammen mit einer 92 Ah-Batterie im Kofferraum, 115 Kilogramm) fertig werden muss und zur Unterstützung der hinteren Federung einen hydropneumatischen Niveau-Ausgleich vorsieht, darf als besonders geglückt beurteilt werden. Das hohe Motorgewicht macht sich beim Federungskomfort durchauspositiv bemerkbar, und ganz erstaunlich ist auch die Geschmeidigkeit beim Überfahren von kleinen Unebenheiten. Das Handling hat unter den neuen Lasten und einem bei immerhin rund 1.7 Tonnen liegenden Leergewicht kaum gelitten. Der 500 E reagiert spontan auf Lenkradbewegungen und zeigt ein gut kontrollierbares Kurvenverhalten. Um drohenden Schlupf-Exzessen an den Antriebsrädern von vornherein einen Riegel vorzuschieben, ist eine Antriebsschlupfregelung (ASR) serienmäßig – ebenso wie ABS und eine wahre Flut von Ausstattungsextras, unter anderem elektrische Fensterheber, Klima-Anlage, Leichtmetallräder, elektrische Sitzverstellung und Metallic-Lackierung. Nicht einmal der Tempomat wurde vergessen, obwohl man davon ausgehen kann, dass die künftige 500 E-Klientel das Gasgeben mit dem rechten Fuß nicht als Mühsal betrachten wird. Sie muss sich im Übrigen selbst bei Solvenz noch ein bisschen gedulden, denn erst Anfang 1991 beginnt die Auslieferung. Auch Rasanz braucht manchmal Weile.

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