Sonntag, 19. September 2021

Die Kehrseite.

Kim Kardashian

aus nzz.ch, 17. 9. 2021

Ein Herz für den Hintern: 
Warum Frauen ein großes Gesäß anstreben
Der neue Fetisch von Frauen ist der dicke Hintern. Die plastische Chirurgie hilft nach. Schon wird kritisiert, daß sich Weiße dafür bei schwarzen Schönheitsidealen bedienen.
 
von Birgit Schmid 
Je dringlicher die einen Frauen andere Frauen auffordern, ihren Körper so zu akzeptieren, wie er ist, desto lustvoller widersetzen sich die anderen dem Gebot der einen. Nur so lässt sich erklären, dass inzwischen einzelne Teile des weiblichen Körpers geradezu fetischisiert werden. Der neue Fetisch von jungen Frauen ist der dicke Hintern.

Es ist die Körperpartie, mit der man Weiblichkeit am imposantesten inszenieren kann, und so tun sie es auch, die Frauen mit Einfluss auf Instagram. Der Blick über die Schulter an sich hinunter hat das Genre der Butt-Selfies hervorgebracht. Und was man da sieht, fordert das ästhetische Empfinden heraus.

Die Hinterteile sind oft so absurd gross, dass sie die Proportionen verzerren. Dabei lassen die Frauen eigentlich ein Schönheitsideal hochleben, das vor 30 000 Jahren mit der Venus von Willendorf, der Tonfigur aus der Steinzeit, begründet wurde: breites Becken, ausladende Pobacken, üppiger Busen. Bloss geht es im Wettbewerb um den mächtigsten Hintern in Herzform nun nicht mehr nur darum, wer von der Natur am grosszügigsten bedacht worden ist. Sondern: Wo es hinten hängt und flach abfällt, wird künstlich aufgefüllt und angehoben.

Das aufgepolsterte Gesäss gehört heute zu den begehrtesten Eingriffen der plastischen Chirurgie. Ungefähr eine halbe Million Menschen weltweit lässt sich jährlich den Po vergrössern. Beim Brazilian Butt Lift, kurz BBL, wird Körperfett in die Pobacken verlagert. So lassen sich gleich mehrere Körperzonen optimieren: Der Po wird mit dem Bauchspeck aufgebaut, was zur angestrebten Sanduhrsilhouette führt.

Harmlos ist der Eingriff nicht: Man kann nach der Operation länger nicht sitzen, manche springen noch Monate später alle paar Minuten auf, weil der Hintern schmerzt. In einem von 3000 Fällen endet die Gesässvergrösserung tödlich.

Während die einen Frauen alles tun, um den männlichen Blick zu disziplinieren, sexualisieren die anderen ihren Körper weiter, um angeschaut zu werden. Was entsprechend vulgär aussieht, ist auch so gewollt. Die Pornografie nämlich hat den Allerwertesten so begehrenswert gemacht. Er wird heute genauso oft ergoogelt wie der Busen. Das hat auch mit manchen Sexualpraktiken zu tun.

«Kiss my ass, ’cause it’s finally famous», rappt Nicki Minay, die einst zierliche Sängerin, und deutet an, weshalb ihr berühmter Hintern jeder Schwerkraft trotzt. Dem ganzen Trend voran ging Kim Kardashian mit einem Hinterteil so monströs gross, dass man in ihm nur mehr eine Karikatur von Weiblichkeit sehen kann.

Es war also eine Frage der Zeit, bis sich jene Ethnie zu beklagen beginnt, zu deren Schönheitsideal das ausladende Gesäss schon immer gehörte: Afroamerikanerinnen. Der Trend sei schmerzhaft, schrieb eine schwarze Autorin neulich im «New York Magazine»: Es fühle sich an, «als würden sie sich unsere Körper aneignen».

Heute gelten bereits Zöpfchen oder ein Jamaica-Bikini an Weissen als kulturelle Aneignung. Lassen sich weisse Millennials nun ihre Körper nach den Kurven schwarzer Frauen modellieren, wird das als besonders übergriffig erlebt, aber auch als ignorant und unsensibel. Denn für ihren Körper wurden schwarze Frauen lange vorgeführt, erniedrigt und ausgebeutet. Im grossen Hinterteil sahen Sklavenhalter und Kolonialisten den Beweis für die enthemmte Sexualität der schwarzen Frau.

Doch die Frauen, die heute mit einem gemachten runden Po in Leggins genau das ausstrahlen wollen, fühlen sich dadurch kaum schuldig an historischen Verbrechen. Auch dass sie damit echte Blackness verfälschen, wie die genannte Journalistin kritisiert, geht ihnen wohl am Körperteil vorbei, das sie so schamlos in die Kamera strecken.

Es ist ihnen egal, dass sie mit einem grossen Hintern auf dünnen Beinen schwarze Schönheitsideale entstellen – falls sie das wirklich tun. Es darf und soll ja gerade künstlich und losgelöst von realen Körpern aussehen. Denn in den sozialen Netzwerken sind Schönheitsoperationen längst zum Statussymbol geworden. Und mit ihnen ihre dicken Kehrseiten.

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