Wie sehr Männer in den Augen der
Gesellschaft das jederzeit zu opfernde Geschlecht sind, ein Wegwerfartikel,
über dessen körperliches oder gar seelisches Wohlergehen sich niemand
sonderlich sorgt, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie beim Umgang mit Obdachlosen.
Keine statistischen Grundlagen
Es beginnt schon damit, dass sich kaum jemand für dieses Problem
interessiert. Abgesehen von regionalen Untersuchungen wie etwa von Kröll & Farhauer in NRW 2012, der Dissertation von Karl
Griese 2000 über die Insassen eines Obdachlosenasyls oder Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe (BAGW) gibt es in Deutschland keine offiziellen Zahlen zum
Problem der Obdachlosigkeit. Die BAGW schätzt, dass es in Deutschland im Jahr
2016 etwa 860.000 obdachlose Menschen gab, eine Steigerung um 150 Prozent
gegenüber 2014.
Jedes Jahr erfrieren Menschen ohne Wohnung im Winter, zudem nimmt Gewalt ihnen gegenüber zu,
beispielsweise wurde 2018 in Koblenz ein Obdachloser enthauptet. Die BAGW schätzt, dass zwischen 1989 und 2016 bundesweit 502
Obdachlose durch Gewalt ums Leben kamen. Zugleich haben mehrere Städte in NRW im November 2017
das Angebot einer Privatfirma abgelehnt, kostenlos beheizbare Schlafcontainer zur Verfügung zu stellen, aufzubauen und
einzurichten, weil es „zu viel Aufwand“ bedeute.
Am 27.6.2012 haben die Bundestagsfraktionen von SPD, Grüne und Linke
eine gemeinsame Kleine Anfrage über die Einführung einer bundesweiten Wohnungs-
und Obdachlosenstatistik gestellt (Bundesdrucksache 17/10187, Antwort 17/10414), die abschlägig beschieden wurde, genau wie die Kleinen Anfragen, die
die Grünen im Februar und Juni 2015 stellten (18/3940, Antwort: 18/4261; 18/5345, Antwort: 18/5654). Begründet wurde dies vor allem mit Verweis auf die Zuständigkeit der Kommunen für die Beseitigung von
Obdachlosigkeit. Dabei dürfte jedem einleuchten, dass nur der Bund in der Lage
ist, für einheitliche Statistiken im gesamten Bundesgebiet zu sorgen, was Grundlage
für eine effektive Bekämpfung von Obdachlosigkeit wäre. Finnland macht vor, was möglich ist, wenn sich eine Regierung ernsthaft dieses
Problems annimmt: Dort ist die Obdachlosigkeit drastisch gesunken, weil
Regierung und NGOs zusammenarbeiten.
Zudem dürfte klar sein, dass die Gewährung von Unterkünften lediglich
Symptome kuriert und es schon deshalb eine nationale Aufgabe wäre, Erkenntnisse
über Ausmaß und Ursachen von Obdachlosigkeit zu gewinnen. In anderen Bereichen
ist die Bundesregierung auch bereit, jenseits von föderalistischen Scheuklappen
zu handeln. Obwohl beispielsweise die Finanzierung von Frauenhäusern ebenfalls
vorrangig Aufgabe der Kommunen ist, hat das Familienministerium 2013 einen Bericht zur Situation der Frauenhäuser veröffentlicht, von der Implementierung
des bundesweiten Hilfstelefons oder dem 120 Millionen Euro schweren Investitionsprogramm Gemeinsam
gegen Gewalt an Frauen, mit dem in den nächsten 4 Jahren der Aus-, Um- und
Neubau von Frauenhäusern und Beratungsstellen finanziert werden soll, ganz zu
schweigen.
Das wertvolle und das
verzichtbare Geschlecht
Dass es in Wahrheit nicht um strukturelle Probleme oder
Kompetenzgerangel geht, sondern schlicht und einfach um Empathielosigkeit
gegenüber Männern, wird jedes Jahr wieder aufs Neue bewiesen:
– 1993 wurde in Hamburg ein Obdachlosentagestreff nur für Frauen
eröffnet, weil der Anteil von Frauen unter den Obdachlosen von 3 auf knapp 10
Prozent gestiegen war. O-Ton einer Mitarbeiterin: „Frauen, die nicht den
Schutzraum einer eigenen Wohnung haben, brauchen einen männerfreien Raum, um sich zu regenerieren“. Die
zunehmende Gewalt gegenüber männlichen Obdachlosen – 1992 wurden bundesweit mindestens
zehn Obdachlose erschossen, erstochen oder verbrannt – war den Verantwortlichen
offenbar egal.
– 1996 führte das BMFSFJ das Modellprojekt Hilfen
für alleinstehende wohnungslose Frauen durch (S. 46), Kosten: 1,45
Millionen Mark.
– 2004 forderte ein Wiener Obdachlosenverein die Gleichstellung von
obdachlosen Frauen in der Betreuungsarbeit und beklagte, dass in
gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen Frauen „stark unterrepräsentiert und
strukturell benachteiligt“ seien. Um bei der Aufnahme von Obdachlosen einen
Frauenanteil von 50 Prozent zu erreichen, solle die Hälfte aller Gelder künftig
für die 20 Prozent obdachlosen Frauen ausgegeben werden, denn: „Frauen haben mehr Bedarf nach Schutz und Sicherheit“.
– Der gestiegene Anteil an Frauen unter den Obdachlosen war auch der
Grund dafür, dass Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) 2018
Verwaltungsmitarbeiter und Hilfsorganisationen an einen Tisch holte, um sich
auf ein gemeinsames Vorgehen zu verständigen (Die Problemlage
habe sich stark verändert: „Vor ein paar Jahren war der Obdachlose noch der
deutsche Mann zwischen 35 und 55, jetzt sehen wir viel mehr Frauen, mehr
Familien, auch mehr ältere und mehr behinderte Menschen“). Worauf sich die
Beteiligten im Handumdrehen einigen konnten, war, dass Frauen und Kinder sowie
ältere Menschen in Berlin nicht mehr aus Wohnungen zwangsgeräumt werden dürfen. Mit der Verdoppelung der
Ausgaben des Senats für Projekte der Wohnungslosenhilfe auf 8,13 Millionen Euro
sollten dann vor allem Plätze in Notübernachtungen für Frauen und Familien
finanziert werden.
– Weil die Nutzer der Essener Tafel zu 75 Prozent Migranten waren, von
denen einige zunehmend aggressiv wurden, verhängten die Betreiber 2018 einen
vorübergehenden Aufnahmestop für Ausländer. Sofort wurde ihnen von allen Seiten Fremdenfeindlichkeit unterstellt.
Hingegen blieb der Aufschrei aus, als die Tafel der Stadt Marl alleinstehende
Männer benachteiligte.
– 2019 spendete ein Unternehmer in Berlin ein Duschmobil zur
Körperpflege für weibliche Obdachlose, der Bezirk Mitte bezahlte für die ersten
vier Monate zwei Teilzeitfachkräfte zur Betreuung. Hier fänden die Frauen
„einen Ort, an dem sie nicht bloß durchatmen können, hier finden sie auch zu
dem Gefühl von Würde, zum Gefühl, sich wieder wirklich als Frau fühlen zu
können“ (Frank Bachner, Tagesspiegel),
denn: „Das Leben auf der Straße ist hart, besonders für Frauen“ (Sylvia Tiegs, RBB). In einem weiteren Projekt sollten 30
obdachlose Frauen, deren Geschlecht beispielsweise in der Überschrift der Märkischen
Allgemeinen verschleiert
wurde (Fast 30 Obdachlose jetzt mit
eigenen vier Wänden), eine Wohnung erhalten.
Nicht zuletzt verrät sich die
Empathielosigkeit gegenüber männlichen Obdachlosen auch in der Art, wie über
sie gesprochen wird. 2009 veröffentlichten die Diakonie Frankfurt, die Evangelische Kirche, RTL und die Werbeagentur
Saatchi & Saatchi einen Videoclip, der auf
„das unscheinbare Leben wohnsitzloser Frauen“ hinweist: „Anders als obdachlose
Männer, die im Stadtbild oft auffallen, sind wohnsitzlose Frauen kaum in der
Öffentlichkeit sichtbar, sie sind vor allem ‚verdeckt obdachlos’“.
Welche Dimension das Ausblenden männlichen Leids annehmen kann, zeigt
exemplarisch Cornelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin der Linken: „Auch
Wohnungslosigkeit hat ein Geschlecht. Mehr als 100.000 Frauen in Deutschland sind wohnungslos“.
Weitere Artikel zum Tag der Geschlechter-Empathielücke:
Brief an die UN
Die Gender Empathy Gap Website
Apokolokynthose zum Taz-Artikel
Üpsilonniks
Asemann
Apokolokynthose
Geschlechterallerlei
Jan Oechsner
Außerdem ein Interview mit Warren Farrell zum Thema:
https://www.youtube.com/watch?v=NE7ZGqaElCc
Die Gender Empathy Gap Website
Apokolokynthose zum Taz-Artikel
Üpsilonniks
Asemann
Apokolokynthose
Geschlechterallerlei
Jan Oechsner
Außerdem ein Interview mit Warren Farrell zum Thema:
https://www.youtube.com/watch?v=NE7ZGqaElCc
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Vielen Dank für deinen Kommentar. Sobald ich ihn gelesen und geprüft habe, schalte ich ihn frei.
Viele Grüße
Gunnar