Sonntag, 19. Dezember 2021

Genauso klug als wie zuvor.

Die Feuerstelle zum Grillieren überwacht natürlich der Mann: «Höhlenleben zur älteren Steinzeit», undatiertes Schulwandbild. 

aus nzz.ch, 2. 12. 2021                                                            Schulbilderverlag F.E.Wachsmuth

Raus aus der Höhle! 
Wie Frauen die Urgeschichte prägten
Der Mann als Jäger und Erfinder, die Frau als Mutter beim Sammeln: In den Vorstellungen, die wir von der Steinzeit haben, sind die Rollen klar verteilt. Aber womöglich war alles ganz anders – das legt die Urhistorikerin Marylène Patou-Mathis nahe.

von Claudia Mäder

Die Geschichte war so gut, dass sie 2018 durch alle Newsportale ging: Facebook hat eine prähistorische Statue zensiert! Die üppigen Brüste der Venus von Willendorf sind den Algorithmen der sozialen Plattform als Pornografie erschienen – die Bilder der Figur, die eine Nutzerin hochgeladen hatte, wurden gesperrt. Natürlich haben die Newsmeldungen zur Causa Venus auch die wichtigsten Informationen über die Skulptur geliefert. Diese, so war zu lesen, zähle zu den berühmtesten urgeschichtlichen Frauendarstellungen und sei vor rund 30 000 Jahren von einem unbekannten Künstler geschaffen worden.

Wirklich? Das jüngste Buch von Marylène Patou-Mathis stellt den letzten Teilsatz infrage. Nicht, dass die französische Urhistorikerin Näheres über den Schöpfer der Venusfigur herausgefunden hätte. Aber mit ihrem Werk legt die Forscherin den Gedanken nahe, dass der unbekannte Künstler auch eine unbekannte Künstlerin gewesen sein könnte.

Bei prähistorischen Kunstwerken von weiblichen Urhebern auszugehen, ist lange Zeit keine Option gewesen. Venusstatuen wie jene aus Willendorf gibt es viele, bis heute liegen an die 250 Figuren vor. Als man 1864 die erste fand, war selbstverständlich klar, dass ein Mann sie angefertigt hatte. Und genauso fraglos nahm man seinerzeit auch an, dass prähistorische Männer Werkzeuge erfunden und Tiere gejagt hatten, derweil sich die Frauen in der Nähe der heimischen Höhle um den Nachwuchs kümmerten.

Diese Klischeebilder wirken heute nicht sonderlich irritierend. Zeugt nicht jeden Sommer die männliche Freude am Grillieren von den guten alten Steinzeitstrukturen, in denen die Herren der Schöpfung für Fleisch und Feuer sorgten? Auch Filme und Romane, die in der Urzeit spielen, transportieren solche Rollenbilder, in der Wissenschaft aber stossen sie seit einiger Zeit auf Widerstand. Spätestens in den 2000er Jahren ist die Geschlechterarchäologie mit Gegenthesen hervorgetreten.

Wer beim Namen dieser Disziplin an «Genderwahn» denkt, an das ideologische «Geschlechtergaga», das inzwischen alle Wissenschaften durchsetzt, dem oder der sei die Lektüre von Patou-Mathis’ Buch besonders empfohlen. Die Französin dreht den Spiess nämlich einfach um. Die Erforschung der Frühgeschichte ist in ihren Augen tatsächlich von einer Ideologie geprägt. Allerdings von einer, die man selten als solche bezeichnet: vom Standpunkt der Männer, der in der Regel als Norm durchgeht.

Von Natur aus häuslich

Als wissenschaftliche Disziplin ist die Urgeschichte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, und vor dem Hintergrund dieser Zeit, so Patou-Mathis, müsse man ihre Thesen verstehen. Den ersten Teil ihres Buches «Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann» widmet die Autorin deswegen nicht der Altsteinzeit, sondern den Geschlechterkonzepten der bürgerlichen Epoche.

Schon lange zuvor sind Frauen von Theologen, Juristen oder Staatstheoretikern den Männern untergeordnet worden, doch ab dem 18. Jahrhundert änderte sich die Begründung, die für die angebliche weibliche Minderwertigkeit vorgebracht wurde. Immer stärker dienten jetzt Medizin und Physiologie zur Degradierung der Frauen. Diese seien durch ihre körperliche Konstitution und ihre kleinen Gehirne «von Natur aus» dazu bestimmt, passiv zu leben und im Haus den Nachwuchs zu betreuen. Die Männer dagegen sollte von Nervenbahnen bis Knochengefüge alles zum tätigen Leben als Schaffer und Ernährer prädestinieren.

 

 

Just diese patriarchalen Vorstellungen, meint Patou-Mathis, hätten die Männer, die sich im 19. Jahrhundert für die Urgeschichte interessierten, auf den Gegenstand ihrer Forschung übertragen. Auch manche dieser ersten Archäologen wollten zeigen, wie die Dinge von Natur aus lagen – jedoch suchten sie die Essenz nicht in biologischen Gegebenheiten, sondern in den Anfängen der Menschheit.

Dass jeder geschichtliche Rekurs auf einen Anfang problematisch ist, war einigen Zeitgenossen wohlbewusst: «Unsere Bilder der Anfänge sind meist doch bloss Constructionen, ja blosse Reflexe von uns selbst», schrieb etwa Jacob Burckhardt warnend. Solche Projektionen gelingen umso leichter, je leerer der Raum ist, in den man sie wirft, und folglich hat die Urgeschichte, für die wir keinerlei schriftliche Zeugnisse haben, eine perfekte Folie für «Reflexe» des zeitgenössischen Denkens geboten.

Handnegative in einer spanischen Höhle.
Handnegative in einer spanischen Höhle.
Nichts ist eindeutig

Das Buch von Marylène Patou-Mathis ist nicht sehr elegant geschrieben – oder übersetzt – und in der Anordnung des Stoffes eher konfus. Doch seine grosse Stärke macht das alles vergessen: Die Autorin hält sich akribisch an die wenigen konkreten Belege, über die wir aus der Altsteinzeit verfügen. Wenn sie also im zweiten Teil des Buches die «prähistorische Frau im Licht neuer Erkenntnisse der Geschlechterarchäologie» diskutiert, geschieht das ausschliesslich anhand archäologischer Quellen, nämlich von Malereien, Statuetten, Grabbeigaben und Skeletten.

Eindeutige Interpretationen dieser Materialien sind selten möglich. Wofür zum Beispiel standen die vielen Frauenfiguren, die wir heute als Venus bezeichnen? Sind sie als Symbole eines Fruchtbarkeitskults zu deuten? Sollten sie die Männer erfreuen? Wurden sie als Amulette von Schwangeren getragen? Und wäre es dann nicht auch denkbar, dass diese sie selber hergestellt hatten?

Die Antwort ist laut Patou-Mathis offen – und zwar in alle Richtungen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass bei den Statuetten Künstlerinnen am Werk waren. Doch genauso fehlen Belege, die auf eine männliche Urheberschaft der Figuren oder irgendeiner prähistorischen Wandmalerei hinweisen. Das Einzige, was diese Annahme nahelegt, ist der ideologische Raster, der dem Mann in einem dualistischen Geschlechtermodell den aktiven Part zuspricht.

In bemalten Höhlen haben die frühen Menschen zuweilen Handabdrücke hinterlassen – viele dieser rund 25 000 Jahre alten «Signaturen» haben sich in Untersuchungen als weiblich erwiesen. Die Zuordnung zu den Geschlechtern basiert auf dem Längenverhältnis zwischen Ring- und Zeigefinger, wobei, wie Patou-Mathis betont, wegen der geringen Anzahl der untersuchten Hände Vorsicht geboten sei vor allzu forschen Schlüssen. Doch grundsätzlich sei es ausgehend von der Quellenlage möglich, dass «einige der grössten Malereien und Skulpturen der paläolithischen Kunst von Frauen geschaffen» worden seien.

Weder Matriarchat noch Patriarchat

Die altsteinzeitliche Kunst zeigt nur wenige «narrative Szenen» mit Menschen, oft verweisen sie auf Jagdvorgänge. Einige der daran beteiligten Personen sind klar als Männer zu identifizieren, andere lassen sich keinem Geschlecht zuteilen. Bei den Statuetten dagegen besteht kein Zweifel: Die erdrückende Mehrheit von ihnen ist weiblich. Zuweilen wird deswegen behauptet, dass unsere Vorfahren eine Frauengottheit verehrt oder im Matriarchat gelebt hätten. Für beides fehlen die Beweise, aber wiederum gilt das auch umgekehrt: Eine patriarchale Struktur ist im Paläolithikum ebenso wenig nachzuweisen.

Und mehr noch: Der Vorstellung, dass die Frauen den Männern «immer schon» untergeordnet gewesen seien, widersprechen gewisse Funde deutlich. In den – sehr spärlich erhaltenen – Grabstätten sind sowohl männliche wie weibliche Skelette entdeckt worden. Schmuck und Kleinkunst, die den Toten beigegeben wurden und vermutlich ihren Status anzeigten, variieren kaum zwischen Männern und Frauen.

Fragen des Status wurden in der Forschung oft auch mit der Jagd in Verbindung gebracht. Als Beschaffer der energiereichen Nahrung, so die verbreitete These, hätten die Männer in den altsteinzeitlichen Gruppen eine überlegene Position eingenommen. Aber wer sagt denn, dass nur die Männer jagten?

Die Quellen jedenfalls nicht. Weibliche Neandertaler-Skelette weisen laut Patou-Mathis Läsionen und Abnutzungen auf, die auf das regelmässige Werfen von Speeren hindeuten. In der Jungsteinzeit zeigten sich Spuren von starken Armaktivitäten dann nur noch bei männlichen Skeletten.

In dieser Phase, in der die Menschen zunehmend sesshaft wurden, scheint also eine Aufgaben-teilung zwischen den Geschlechtern fassbar zu werden. Für die vorangegangenen paläolithischen Gesellschaften aber zeugt laut Patou-Mathis kein archäologischer Überrest von einer «klassischen» Rollenverteilung, und auf der Grundlage aller Daten sei «nicht auszuschliessen, dass die Frauen an allen Etappen der Jagd beteiligt waren – vom Spurenlesen über die Erarbeitung der Jagdstrategien bis zum Schiessen».

Die Urgeschichte boomt

«Es ist nicht auszuschliessen» und «Nichts weist darauf hin» zählen in diesem Buch zu den häufigsten Formulierungen. Das sind nicht die Zutaten, aus denen schmissige Geschichten entstehen. Aber das kann man leicht verkraften, denn flotte Erzählungen über die Urzeit gibt es wahrlich schon mehr als genug.

In den letzten Jahren haben Autoren wie Yuval Noah Harari oder James Suzman die Frühzeit als Eldorado beschrieben, in dem die Menschen noch frei von der späteren Arbeitsfron lebten. Andere schwärmen von der tiefen Naturverbundenheit, die unsere altsteinzeitlichen Vorfahren angeblich kannten, während Dritte lieber betonen, dass die Menschen ihre Umwelt «immer schon» umgestaltet hätten.

Bis heute ist die Urgeschichte demnach der perfekte Raum für Rückprojektionen, die sich aus Gegenwartsfragen nähren. Marylène Patou-Mathis hingegen lässt die fernen Zeiten unbegreiflich bleiben. Die riesigen Lücken, die sich zwischen den wenigen Überresten auftun, füllt sie nicht mit Identifikationsangeboten. Dafür zeigt sie, wie offen Geschichte und Gegenwart sein können, wenn sich ihre Betrachterinnen und Betrachter nicht auf eine Ideologie versteifen.

Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Verlag Carl Hanser, München 2021. 286 S., Fr. 37.90.   

 

Nota. - Dem Dr. Freud in Wien haben seine Patienten seinerzeit praktischer Weise nur solche Sachen erzählt, mit denen ihr Doktor etwas anfangen konnte. Freuds erster Mitstreiter war Alfred Adler, dem stieß das auf, und er wurde zum ersten Häretiker der Psychaonalyse. Seinen Schülern gab er als therapeutische Richtlinie mit auf den Weg den Satz Es kann alles auch ganz anders sein. Woran mein heutiges Ich sich erinnern kann-will-muss, ist nicht unbedingt das-selbe wie das, was es damals wirklich erlebt hat - weil ich ein anderer geworden bin.

So ist es mit der Geschichte der Individuen. Die Geschichte der Gattung hat den Vorzug, dass sie einige - wenn auch nicht viele - Denkmäler hinterlassen hat, in Stein gemeißelte oder in versteinerte Knochen gegossene, über deren Alter und wahre Herkunft gestritten werden kann, aber doch nicht endlos. Irgendwann werden sie einstweilen definitiv festgestellt. Dann fängt das Problem aber erst an: Was bedeuten sie? Was sie bedeuten, ist ein schlechterdings nicht objektiver Sachverhalt. Sie bedeuten nicht 'überhaupt', sondern immer nur für einen, der sich einen Reim drauf machen will oder muss.

An dem Punkt schließt der obige Beitrag, und wenn ichs recht verstehe, auch das Buch von Mme. Patou-Maris. Doch hat die Rezensentin keine Kontrolle über das, was der* Leser*in aus dem Beitrag in der Neuen Zürcher macht: Er* könnte auch lesen: 'Die herkömmliche Inter-pretation ist nicht erwiesen? Dann trifft das Gegenteil zu.' 

Das hat Frau Patou-Maris nicht geschrieben? Aber die Rezensentin hat ihm auch nicht wirk-lich widersprochen. 

Es könnte alles ganz anders sein. Die archäologischen Befunde stellen Fragen und geben keine Antworten. Aber die Fragen grenzen den Umkreis der möglichen Antworten ein. Nicht so, dass sie vorgäben, was überhaupt nicht möglich wäre; aber doch, was mehr oder weniger wahr-scheinlich ist. Was man freilich dafür hält, ist vom Geist der Zeit - positiv oder negativ - mit bestimmt, ach, da hat sie leider Recht. Dass eine durchgehende Differenzierung der Menschen nach ihrem Geschlecht in der Jungsteinzeit - als sich der Übergang zum Ackerbau anbahnte - begonnen hat, erscheint nach dem, was wir unter Vorbehalt wissen, als plausibel. Doch für wie lange?

JE 

 

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