«Heute fehlt eine Aufbruchstimmung»

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Hoffnungen der Schweizer«Heute fehlt eine Aufbruchstimmung»

Die Schweizer zeichnen ein düsteres Weltbild, in ihre eigene Zukunft blicken sie aber hoffnungsvoll. Wie passt das zusammen? Ein Experte ordnet ein.

Lena Stadler
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Lena Stadler

Für die Zukunft wünscht sich die Schweizer Bevölkerung ein harmonisches und ökologisches Zusammenleben. Diese Wünsche decken sich aber nicht mit den Erwartungen: Es besteht ein allgemeines Unbehagen über die aktuelle Lage und Zukunft dieser Welt. Dies zeigt das aktuelle Hoffnungsbarometer von Swissfuture und der Universität St. Gallen, für welches 4000 Schweizer online befragt wurden.

52 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass es wenig Sinn macht, wie unsere heutige Gesellschaft funktioniert. Noch grösser ist mit 63 Prozent die Ablehnung bei der Frage, ob sich die Gesellschaft für die meisten Menschen positiv entwickelt. Somit schätzen auch 59 Prozent die Lebensqualität in 20 Jahren schlechter ein als heute. Befürchtet wird insbesondere eine zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, eine Verschlechterung der mentalen Gesundheit sowie die wachsende Kriminalität und Gewalt.

Neue Technologien machen Angst

«Die heutigen Visionen über die Zukunft sind meistens mit Phänomenen verbunden, die vermieden werden möchten, wie der Klimawandel oder soziale Ungleichgewichte», sagt Studienautor Andreas Krafft. «Im heutigen 21. Jahrhundert fehlt bisher eine Aufbruchstimmung, die der Menschheit zu neuer Euphorie verhilft.»

In jedem Jahrhundert habe es eine charakteristische Aufbruchstimmung gegeben. Im 17. und 18. Jahrhundert verhalf das Aufkommen von Wissenschaft, Aufklärung und Demokratie der Gesellschaft zu neuem Schwung, im 19. Jahrhundert war es die industrielle Revolution und im 20. Jahrhundert die 68er-Bewegung und soziale Errungenschaften wie die Frauenrechte.

Prägend für die heutige Gesellschaft ist die zunehmende Digitalisierung. Doch die Schweizer glauben gemäss dem Hoffnungsbarometer nicht mehr an einen unbegrenzten technologischen Fortschritt. Viele fürchten aufgrund neuer Technologien im Gegenteil eine Steigerung der Arbeitslosigkeit, eine Entfremdung der Menschen voneinander und von der Natur sowie eine Förderung von Überwachungsstaaten.

Soziales Engagement stimmt optimistisch

Entgegen dem pessimistischen Weltbild bleibt die Mehrheit der Bevölkerung optimistisch und hoffnungsvoll bezüglich ihres eigenen Lebens. Wie kann dieser scheinbare Widerspruch erklärt werden? «Durch die Nachrichten werden wir oft mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen konfrontiert, die wir im privaten Leben nicht erleben», so Krafft. Zwar fühlten wir uns durch die Probleme dieser Welt bedroht. Greifbar würden sie aber erst, wenn sie uns selbst betreffen und wir uns beispielsweise weniger leisten können oder die Kriminalität im eigenen Quartier steigt.

«Wir haben immer das Gefühl, dass es uns besser gehen wird als dem Durchschnitt der Bevölkerung. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen ‹biased optimism›, was so viel heisst wie unrealistischer Optimismus», erklärt Krafft. So würden etwa Töfffahrer nicht daran glauben, dass sie einen Unfall erleiden und Raucher nicht daran, dass sie an Lungenkrebs erkranken – auch wenn die Wahrscheinlichkeit in beiden Fällen hoch ist.

Auch wenn der persönliche Optimismus gross ist, kann dieser nicht ohne Weiteres auf das allgemeine Weltbild übertragen werden. «Ein optimistischeres Weltbild kann man nur entwickeln, wenn man sich für die Gesellschaft engagiert, etwa im Turnverein oder Altersheim.» Viele Menschen haben aber das Gefühl, dass sie als Einzelpersonen nichts ausrichten können. «Um die Ohnmacht des Alleinseins zu überwinden, muss man sich zusammenschliessen. Genau das macht beispielsweise die Klimabewegung so erfolgreich.»

Wohlstand führt zu Orientierungslosigkeit

Laut Krafft sind die Hoffnungswerte der Schweiz verglichen mit anderen Ländern durchschnittlich. Das Hoffnungsbarometer zeigt, dass ärmere Länder wie Südafrika, Kenia oder Indien die höchsten Hoffnungswerte aufweisen. «Wenn sich Menschen auf einem tieferen Wohlstandsniveau befinden, können sie die Zukunft positiver sehen.»

In der Schweiz hingegen hätten wir schon einen sehr hohen Wohlstand, der nur stagnieren oder wieder sinken könne. «Das führt zu einer Orientierungslosigkeit. Es gelten noch die Muster einer schnelllebigen, individualistischen Wettbewerbsgesellschaft, die Sehnsucht nach einer entschleunigten, nachhaltigen und harmonischen Gesellschaft wird aber immer stärker.»

Wir befänden uns in einer Übergangsphase, in der wir neue Wege finden müssen, dem Leben einen Sinn zu geben, sagt Krafft. Gemäss dem Hoffnungsbarometer sind bei dieser Sinnsuche die Beziehungen zu unseren Mitmenschen und zur Natur sehr wichtig. Hoffnung schöpfen die Befragten vor allem aus der Verbindung zur Natur und der Unterstützung von Familie und Freunden, gefolgt von Problemlösungskompetenz und sozialem Engagement. Für die Zukunft wünschen sich die Schweizer Gesundheit, eine glückliche Partnerschaft und Familie sowie ein harmonisches Leben.

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