«Mitschüler verprügelten und beleidigten mich»

Aktualisiert

Jugendliche in Psychiatrie«Mitschüler verprügelten und beleidigten mich»

Fast doppelt so viele unter 18-Jährige wie früher gehen laut neuen Zahlen zum Psychiater. Eine Chefärztin macht den Schuldruck verantwortlich.

B. Zanni
von
B. Zanni

Die psychischen Probleme werden so gross, dass nur noch eine professionelle Behandlung hilft: Solche Situationen sind für junge Menschen in der Schweiz zunehmend Realität. Rund 48'300 Kinder und Jugendliche und damit fast doppelt so viele wie noch 2006 (27 480) liessen sich 2017 in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis ambulant behandeln, wie neue Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zeigen.

Gleichzeitig verzeichnet die ambulante Spitalpsychiatrie mehr als doppelt so viele Konsultationen bei den höchstens 18-Jährigen. Immer mehr Kinder und Jugendliche werden auch auf den stationären Abteilungen der Kliniken therapiert: Die Zahl der Hospitalisierungen zwischen den Jahren 2012 und 2017 stieg von 3400 auf 5100 um mehr als die Hälfte. In jedem dritten Fall diagnostizieren die Ärzte affektive Störungen, wozu Depressionen und Manien zählen.

«Keine Kraft mehr zum Aufstehen»

Auch die 24-jährige V. S.* fand nur mit psychiatrischer Hilfe aus ihrem Tief heraus. «Mit 16 Jahren hatte ich morgens keine Kraft mehr zum Aufstehen», sagt S. Sie habe sich im Lehrbetrieb jeweils krank gemeldet und den ganzen Tag geschlafen. «Ich hatte Depressionen, weil mich der Druck kaputtmachte. Man muss schon fast perfekt sein, um überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen.»

Als sie gemerkt habe, dass ihr die Lehre als Hotelfachfrau nicht zusage, sei sie in ein Loch gefallen und habe ihre Lehrstelle verloren, so S. «Ich fühlte mich wertlos und hatte Angst vor dem Leben und Selbstmordgedanken.» Ihre Eltern seien zerstritten gewesen und hätten sie nicht unterstützen können. S. liess sich darauf mehrere Monate in einer Klinik stationär und später ambulant behandeln. Heute sei sie in ihrem Praktikum als Fachfrau Betreuung glücklich. «Ich kämpfe aber auch jetzt manchmal noch mit Depressionen und habe Mühe, morgens aufzustehen. Die Angst, es wieder nicht zu schaffen, ist einfach ein Teil von mir.»

In der Schule gemobbt

Auch D. M.* (21) erzählt: «Als ich 16 Jahre alt war, schickte mich mein Vater in eine psychiatrische Klinik. Ich wollte nicht mehr leben, fand alles nur scheisse und glaubte, dass alles keinen Sinn mehr hatte.» Er sei in der Schule immer gemobbt worden. «Ich war ein Einzelgänger. Meine Mitschüler verprügelten und beleidigten mich. Sie sagten, ich sei nichts wert.» Er habe sich in der Folge von der Familie abgekapselt und kaum mehr gegessen.

Seit dem fünfwöchigen Klinikaufenthalt und einer ambulanten Therapie habe er keine Depressionen mehr, sagt M. «Es geht mir tipptopp.» Rückblickend kritisiert er die Schulbehörden: «Bei Mobbing schauen die Schulbehörden viel zu lange weg.»

«Ich war oft paranoid»

A. T.* wurde als 13-Jähriger erstmals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. «In der ersten Klinik war ich 1,5 Jahre, der zweite Aufenthalt in einer anderen Psychiatrie dauerte ein Jahr», sagt der heute 20-Jährige. «Ich hatte kein Selbstwertgefühl, bildete eine Mauer um mich und war oft paranoid.» Er habe immer Verlustängste gehabt. «Sobald sich meine Mutter mal zwei Stunden nicht meldete, hatte ich Angst.»

Den Grund sieht er in seiner Familie. Er sei ohne Vater aufgewachsen und habe viele schlimme Konflikte seiner Eltern mitbekommen. «Meine Mutter hatte wenig Zeit für mich, weil sie den ganzen Tag arbeitete.» Besonders schlimm gewesen sei, wenn seine Mutter abends einfach nur genervt gewesen sei. «Ich dachte dann, schuld an allem zu sein.» Die Ärzte in den Psychiatrien hätten ihm in einigen Punkten sehr geholfen. «Manchmal fühlte ich mich dort aber noch kränker als ich eigentlich war und noch mehr als Aussenseiter.»

«Absolut besorgniserregend»

Dagmar Pauli, Chefärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, führt die Zunahme an psychiatrischer Betreuung auf einen gestiegenen Leistungsdruck zurück (siehe Interview unten). «Diese Entwicklung ist absolut besorgniserregend», sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Schweizer Lehrerverbands. Sie stelle fest, dass die Leistungsüberprüfung enorm zugenommen habe.

«Um zum Beispiel eine Lehrstelle zu erhalten, müssen Schüler zusätzlich zu den Zeugnisnoten Checks machen», so Peterhans. Gleichzeitig verlangten einige Eltern von ihren Kindern übermässige Leistungen, hätten aber wenig Zeit und böten zu wenig Geborgenheit. «Es mangelt einigen Kindern an Sicherheit und fixen Bezugspersonen.»

«Der Druck in der Schule ist zu gross»

Frau Pauli*, noch nie haben sich so viele Kinder und Jugendliche in einer Psychiatrie behandeln lassen. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Tatsächlich behandeln wir immer mehr unter 18-Jährige, die unter Depressionen leiden. Dabei stellen wir fest, dass bei vielen der Schuldruck der Auslöser ist. Viele Jugendlichen bleiben dem Schulunterricht fern, leiden unter Angststörungen und Burnouts. Häufiger als früher verletzten sie sich auch selbst und sind suizidgefährdet. Der Druck in der Schule ist zu gross.

Was bringt die Schüler so weit, den Gang in die Psychiatrie zu wählen?

Sobald ein Schüler eine schlechte Note schreibt, wird er abgeklärt und in die Nachhilfe geschickt. Dass Schüler auf unterschiedlichen Niveaus gut funktionieren können, wird heute nicht mehr akzeptiert. Man muss überall eine Topleistung bringen. Die Folgen sind grosse Unsicherheiten, Angst vor der Zukunft und Orientierungslosigkeit. Wenn dann all das nicht mehr funktioniert, dann kommt es oft zu einem Zusammenbruch und dann kommt es zur Anmeldung bei uns. Noch verschlimmert wird der Zustand, weil sie auch ausserhalb der Schule perfekt funktionieren wollen.

Wie meinen Sie das?

In den sozialen Medien müssen sie sich ständig inszenieren und werden mit Fotos überflutet, die zeigen, wie man aussehen soll. Sie müssen online ständig verfügbar sein, alle Instagram-Posts sehen und alle Whatsapp-Nachrichten beantworten. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die Eltern da auch nicht heraushelfen können.

Warum nicht?

Die Eltern sind auch ständig online und müssen beruflich und privat überall präsent sein. Ihr Verhalten wirkt sich automatisch auf die jüngere Generation aus. Familien haben kaum noch Zeit, zusammen zu relaxen.

*Name der Redaktion bekannt.

Suizidgedanken? Hier finden Sie Hilfe

Beratung:

Dargebotene Hand, Tel. 143, (143.ch)

Angebot der Pro Juventute: Tel. 147, (147.ch)

Kirchen (Seelsorge.net)

Anlaufstellen für Suizid-Betroffene:

Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils (Nebelmeer.net);

Refugium – Geführte Selbsthilfegruppen für Hinterbliebene nach Suizid (Verein-refugium.ch);

Verein Regenbogen Schweiz (Verein-regenbogen.ch).

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