«Unser Papi leert ein Glas Wasser auf uns»

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Video gegen Gewalt in der Erziehung«Unser Papi leert ein Glas Wasser auf uns»

Mehrere Kinder erzählen in einem viralen Facebook-Video des Kinderschutzes Schweiz, wie ihre Eltern sie bestrafen, wenn sie etwas falsch machen. Der Film soll aufrütteln.

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«Wenn sie wütend ist, schreit sie manchmal, und ich dann auch», sagt ein kleines Mädchen. Und zwei Jungs über ihren Vater: «Er nimmt ein Glas, füllt es mit Wasser und leert es über uns aus.» Und ein Mädchen: «Sie nehmen mich manchmal an den Haaren.» In einem kurzen Film aus der neuen Kampagne «Ideen von starken Kindern für starke Eltern – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt» der Organisation Kinderschutz Schweiz erzählen Kinder, wie ihre Eltern reagieren, wenn sie nicht gehorchen oder etwas angestellt haben.

Durch das Video wird klar, dass auch heute noch Eltern in stressigen Situationen auf psychische oder physische Bestrafungen als Erziehungsmittel zurückgreifen. Dies belegt auch die neueste Studie der Universität Freiburg. Daraus geht hervor, dass von den über 1,2 Millionen Schweizer Kindern zwischen 1 und 15 mehr als 550'000 schon körperliche Strafen erlebt haben.

«Eltern wollen ein Gefühl der Genugtuung erlangen»

Auslöser für die elterliche Bestrafung seien meist alltägliche Situationen, erklärt Xenia Schlegel, Geschäftsleiterin Kinderschutz Schweiz. «Probleme im Geschäft, Spannungen in der Beziehung, finanzielle Sorgen, Stress und Krankheit – die Liste der Sorgen und Nöte ist lang. Und dann noch ein Kind, das nicht macht, was man will.»

Laut Dominik Schöbi, Leiter der Klinischen Familienpsychologie an der Universität Freiburg, bestrafen Eltern ihre Kinder in erster Linie, weil sie bei ihnen ein Fehlverhalten feststellen. «Sie wollen dem Kind zeigen, dass sein Verhalten falsch ist, und es veranlassen, dieses zu ändern.» Oft diene die Bestrafung aber auch einfach dazu, die eigenen negativen Gefühle zu bewältigen und ein Gefühl der Genugtuung zu erlangen. «Vor allem in solchen Situationen kommt leider oft Gewalt ins Spiel.»

Wenn Kinder psychisch oder physisch bestraft werden, lernen sie vor allem zwei Dinge, so Schöbi: «Erstens, dass die Welt – bis in die Familie und die engsten Beziehungen hinein – potenziell gefährlich ist. Unberechenbar und nicht vollständig vertrauenswürdig�.» Dies habe zur Folge, dass das Kind ein niedriges Selbstwertgefühl habe, schlechte Schulnoten nach Hause bringe oder später im Beruf weniger erfolgreich sei. Zudem könne die Bestrafung zu Beziehungsproblemen im Erwachsenenalter führen. Auch das Risiko für psychische Störungen sei höher. «Zweitens lernen die Kinder, dass es in Ordnung ist, in problematischen Situationen anderen psychische und physische Schmerzen zu bereiten», erklärt Schöbi. «Zusammengenommen können diese Aspekte dann auch dazu führen, dass solche Kinder später selbst wahrscheinlicher Gewalt gegenüber anderen anwenden, aber möglicherweise auch selbst eher Opfer von Gewalt werden.»

Video über 170'000-mal angeschaut

Das Video bewegt. Auf der Facebookseite von Kinderschutz Schweiz wurde es in knapp einem Monat bereits über 173'000-mal aufgerufen. Insgesamt sei es bereits über eine halbe Million Mal auf den verschiedenen Social Media-Kanälen angeschaut worden. «Wir erhalten sehr viele positive Rückmeldung von Erwachsenen, die als Kinder geschlagen wurden oder unter psychischer Gewalt durch ihre Eltern gelitten haben. Ihre Geschichten und ihr Dank für das Aufgreifen des Themas berühren mich sehr», sagt Schlegel. «Umgekehrt erhalten wir Mails von Müttern und Vätern, die sagen: ‹Es ginge halt nicht anders.›.»

Mit der Kampagne habe man genau diese vorherrschende soziale Norm «Es muss halt manchmal sein» ansprechen wollen – ohne diese zu verurteilen oder zu kriminalisieren. Schlegel: «Es ist Zeit für einen nachhaltigen Wertewandel in der Schweiz. Kinder brauchen keine Schläge und Herabsetzungen, um tolle Erwachsene zu werden.»

Politik stehe in der Verantwortung

Der Film berührt auch SP-Nationalrätin Yvonne Feri: «Die Augen und die Mimik der Kinder im Film sagen mehr als tausend Worte. Es macht mich traurig, dass auch heute noch in der Schweiz jedes zweite Kind von Gewalt in der Erziehung betroffen ist.» Als ehemals alleinerziehende und berufstätige Mutter zweier Töchter liege ihr das Thema Erziehung besonders am Herzen: «Auch ich bin im Alltag oft an meine Grenzen gestossen und kenne die täglichen Herausforderungen von Eltern nur allzu gut. In schwierigen Zeiten hat es mir sehr geholfen, mich zu bewegen.»

Der richtige Umgang mit Kindern

Herr Schöbi*, wie können wir unseren Kindern angemessen zeigen, wenn sie etwas falsch gemacht haben?

Kinder können schon anhand vom Verhalten anderer Kinder oder Erwachsener merken, dass sie etwas falsch gemacht haben. Kleinste Veränderungen in der Stimmlage oder im Gesichtsausdruck reichen dafür aus. Es geht also nicht darum, den Kindern zu zeigen, was falsch ist.

Um was dann?

Es ist wichtig, den Kindern zu zeigen, wo die klaren Grenzen sind und diese auf Dauer Gültigkeit haben. Das kann ein schwieriger Job sein. Hier sollte man deutliche Zeichen setzen und konsistent sein.

Und wie schaffen es Eltern, nicht auszurasten?

Es kann helfen, realistische Erwartungen an die eigene Rolle und die Situation zu haben. Als Eltern ist es unser Job, mit den Kindern zu streiten. Genauso wie es die Aufgabe der Kinder ist, auszuloten, wo die Grenzen liegen. Auch sollten wir lernen, schwierige Situationen frühzeitig zu erkennen. Dadurch können wir uns besser kontrollieren, beruhigen oder die Auseinandersetzung abbrechen, bevor sie eskaliert. Sehr wichtig ist es, dass wir eine Alternative zur Gewalt bereithalten.

*Dominik Schöbi ist Leiter der Klinischen Familienpsychologie der Universität Fribourg

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