«Auch harmlose Ängste können Problem werden»

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Psychotherapeut«Auch harmlose Ängste können Problem werden»

Angststörungen machen Betroffenen das Leben zur Hölle. Fachpsychologe Christoph Flückiger spricht im Interview über Ursachen und Heilungschancen.

Matthias Gröbli
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Matthias Gröbli

Herr Flückiger, Sie haben täglich mit angstgeplagten Menschen zu tun. Wovor haben Sie selbst Angst?

Dass man die Angst nicht zulässt. Ich bin froh, wenn Menschen Angst haben. Es ist wichtig, dass wir Angst haben. Es ist auch nicht das Ziel, die Angst wegzubekommen, sondern in den Griff zu kriegen. Persönlich ist meine Hauptsorge das Wohlbefinden meiner Familie, meiner Frau, meiner drei Buben. Angst ist oft verbunden mit Liebe.

Der Winterzeit steht bevor, was vielen aufs Gemüt drückt: Haben Sie dann mehr Patienten in der Praxis?

Tendenziell ja, weil zu den Angststörungen durchaus auch eine Depression kommen kann, die den Leidensdruck erhöht.

Welches ist der krasseste Fall, mit dem Sie je zu tun hatten?

Auf einen konkreten Patienten kann ich nicht eingehen. Die krassesten Fälle sind jene, bei denen die Leute gegen aussen gut funktionieren, aber gegen innen ein riesiger Leidensdruck besteht. Diese Fälle sind sehr subtil, nicht offensichtlich. Zum Beispiel wenn ein Direktor eines KMU zu mir kommt, der beruflich perfekt funktioniert, täglich zwölf Stunden arbeitet, sehr gute Handlungsanleitungen gibt – aber innerlich wahnsinnig viele Sorgen hat, auch nur den kleinsten Fehler zu machen, und diese nicht stoppen kann. Er wacht nachts auf und überlegt, wie er alles noch besser machen kann, keine Fehler begeht.

Wie können Sie einem solchen Patienten helfen?

Zuerst sage ich dem Patienten, dass ich froh bin, dass er sich gemeldet hat, sein Leiden akzeptiert und Hilfe sucht. Es braucht oft eine Fachperson, die diesen Leidensdruck begreift und erfasst, was er bedeutet. Es gibt laute psychische Störungen wie Borderline, Schizophrenie, antisoziale Persönlichkeitsstörungen, Burnout. Dann gibt es andere, internale Störungen, bei denen Leute die Probleme in sich hineinfressen.

Haben sich die Angststörungen im Verlauf der Zeit verändert?

Ich denke nicht. Aber sie werden heute besser erkannt. Angststörungen sind inzwischen weniger tabuisiert. Laut Studien beträgt die Lebensprävalenz 20 Prozent – das heisst zwei von zehn Leuten entwickeln in ihrem Leben mindestens einmal eine Angststörung. Diese sind meistens chronisch. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Angststörungen kommen in allen Kulturen vor, doch auffällig ist: Finanzielle Sorgen sind in der Schweiz vergleichsweise sehr ausgeprägt, was möglicherweise auf den ersten Blick etwas erstaunt, da es uns ja vergleichsweise gut geht.

Wie viele Menschen in der Schweiz haben eine Angststörung?

Rund zehn Prozent der Bevölkerung, also über 800'000 Personen.

Wann wird eine Angst oder Phobie zur Krankheit?

Entscheidend ist der starke subjektive Leidensdruck, wenn der Betroffene jeden Tag konfrontiert ist mit der Angst und diese den Alltag spürbar einschränkt. Die Angststörung wird dann behandlungswürdig, wenn sie eine Zentralität bekommt im Leben und – ganz wichtig – sich nicht mehr stoppen lässt. Die Betroffenen realisieren, dass sie völlig übertriebene Ängste haben, die nicht mehr der Realität entsprechen. Dann können auch grundsätzlich weniger gravierende Ängste zum ernsten Problem werden. Etwa wenn ein Zoohändler eine Angst vor Spinnen oder ein Flight Attendant Flugangst entwickelt.

Welche Ursachen können Angststörungen haben?

Es gibt viele Faktoren, und oft kommt einiges zusammen: die Veranlagung, eine ängstliche Person zu sein, aktueller Stress, traumatische Erlebnisse, die als Auslöser wirken.

Welche Therapieformen gibt es? Wie gut sind die Heilungschancen?

Eine psychische Störung ist nicht wie ein Beinbruch, nicht so klar erkennbar. Es ist meine Aufgabe, die Lebenssituation zu erkennen und eine Behandlung zu veranlassen. Die Heilungschancen sind bei professioneller Psychotherapie – zumeist kognitiver Verhaltenstherapie von gut geschulten Leuten – sehr gut. Medikamente werden auch eingesetzt, allerdings sind die Nebenwirkungen teilweise gross. Einige dieser Medikamente gegen Ängste machen süchtig, was dazu führt, dass bei der Mehrzahl meiner Patienten viel Zeit ins Absetzen dieser oft vom Hausarzt verschriebenen Medikamente investiert werden muss. Gleiches gilt für Schlafmedikamente.

Macht es Sinn, Menschen mit ihren Ängsten immer wieder zu konfrontieren? Oder ist das kontraproduktiv?

Dafür braucht es gut geschulte Leute. Eine Konfrontationstherapie ist sehr komplex. Es dauert meistens acht Jahre, bis Leute bei uns landen. Lange hatten sie selbst irgendwie versucht, ihre Ängste in den Griff zu bekommen. Mein Appell ist: Kaufen Sie einen empirisch gut untersuchten Ratgeber und – falls Sie damit nicht viel anfangen können – scheuen Sie sich nicht, direkt zu uns in eine professionelle Behandlung zu kommen. Adäquate Therapien für Angststörungen werden von den Krankenkassen-Grundversicherungen allerdings nur mit grossen Hürden zugelassen. Dies will der Bundesrat nun ändern, eine entsprechende Vernehmlassung ist am Laufen.

Was soll ich als Partner eines Menschen mit Angststörungen tun?

Den Betroffenen ernst nehmen und sich selbst nicht schuldig fühlen. Sich seine eigenen Grenzen einzugestehen, ist oftmals ein erster Schritt, professionelle Hilfe zu suchen und sich auf diese einzulassen.

Neue Therapie aus den USA

In der Therapie von Angststörungen gehen Kliniker neue Wege. Basierend auf der Arbeit von Angst-Spezialist David Barlow von der Universität Boston und seinem Team wird an der Universität Zürich und der Psychiatrischen Universitätsklinik ein neues Therapieprogramm untersucht. Während klassischerweise jede Angststörung von Psychotherapeuten mit einem gesonderten Behandlungsprogramm behandelt wurde, hat das Team in Boston ein gemeinsames Programm entwickelt. Dazu hat die Überlegung geführt, dass emotionale Störungen wie Angst und Depression viele Gemeinsamkeiten haben. Fast alle Patienten vermeiden bestimmte Gedanken und Situationen, fast alle grübeln oder haben negative Gedanken. Dies kann durch ein gemeinsames Programm behandelt werden.

Für Therapeuten hat dies den Vorteil, dass sie sich nicht zu stark auf einzelne Erkrankungen, z. B. Panik, soziale Angst, Phobie, Depression, spezialisieren müssen, sondern sich eher wieder auf die genannten gemeinsamen Aspekte der Erkrankungen besinnen können. Erste Ergebnisse aus den USA beweisen die Wirksamkeit des Programms und zeigen, dass viele Patienten bereits nach relativ wenigen Sitzungen, im Mittel etwa 16, ihre Angst zu einem grossen Teil verlieren. In der Schweiz könnten viele Patienten ebenfalls von dem Programm profitieren.

Der neue Ansatz wird nun in Zürich mit einer Psychotherapie-Studie weiterverfolgt, wie Prof. Dr. Birgit Kleim, Leiterin des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Projekts, erklärt.

Neue Therapie aus den USA

Serie zu Angststörungen

Rund 800'000 Menschen in der Schweiz sind Opfer von Angststörungen oder Phobien. In unserer Serie berichten Betroffene über ihr Leben mit der Angst, und ein Experte spricht über Alarmzeichen und Therapien.

5. Psychotherapeut Prof. Dr. Christoph Flückiger über Angststörungen

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