Die WM in Russland, russische Frauen und die Fans

Ein Artikel berichtet darüber, dass es in Russland wohl Unmut darüber gibt, dass sich russische Frauen mit WM-Fans vergnügen. Aus einem Interview:

ZEIT ONLINE: Ein Kommentar einer Boulevardzeitung hieß „Zeit der Luder“. Man wirft den Frauen vor, Schande über sich und Russland zu bringen. Woher kommt der Hass?

Narinskaja: Das hat, glaube ich, zwei Gründe. Zum einen gab es nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Ideologielücke. Nach Jahren der relativen Freiheit unter Lenin wurden die Regeln nach dem zweiten Weltkrieg im „Moralkodex der Erbauer des Kommunismus“ neu geschrieben. Die sexuelle Freiheit verschwand damit wie vieles andere auch. In den ersten Jahren unter Putin gelang es der orthodoxen Kirche dann irgendwie, bei diesem Thema in das Ideologie-Vakuum zu schlüpfen und die Meinungshoheit zu übernehmen. Der zweite Grund ist die Propaganda über den Westen. Die Frauen küssen jetzt Männer, die gegen uns sind. Was nicht sein darf, kann nicht sein.

ich hatte schon mal an anderer Stelle geschrieben:

Sozialismus ist eine Ideologie, die die Gemeinschaft an erste Stelle stellt und das Individuum dahinter zurücktreten lässt. Jede Ideologie, die darauf abstellt, hat ein Trittbrettfahrerproblem und muss ein entsprechendes Denken, dass jeder seinen Teil beitragen muss, besonders predigen und doch vorhandene Trittbrettfahrer bestrafen.

Deswegen braucht ein Kommunismus üblicherweise eine starke Identitätspolitik, ein wir gegen die und eine Form des Nationalismus – Es wird zwar die Internationale gesungen und die Einheitlichkeit aller kommunistischen Länder beschworen, aber alle anderen sind eben die Bösen und die Gemeinschaft, die Treue zur Gemeinschaft und der Staat sehr wichtig. Es würde mich also nicht verwundern, wenn viele dort gerne das Vakuum mit was auch immer gefühlt haben und gewissen Nationalismus vertreten.

ZEIT ONLINE: Schon vor der WM warnte die Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Familien, Frauen und Kinder, keine intimen Verhältnisse mit Fremden zu haben und stattdessen eigene Kinder zu gebären. Ist die Frau in Russland schon immer eine politische Figur?

Narinskaja: Oh ja. In der Sowjetunion waren Frauen in höchsten politischen Ämtern. Sie durften auch wählen, sich ohne Angabe von Gründen scheiden lassen, kostenlos abtreiben, über ihr eigenes Geld verfügen. Sie waren auch gesellschaftlich gleichgestellt. Viele Frauen waren in Leitungsberufen, so wie Irina Antonowa, die langjährige Chefin des Puschkin-Museums. Aber wenn sie nach Hause kamen, gab es immer noch das alte Rollenbild: Die Frau hatte zu kochen und sich um die Kinder zu kümmern. Das war ihre Pflicht, es erschien angemessen. Damit war sie eine gute Bürgerin. Während im Westen die Frauen ab den Siebzigern für ihre Rechte kämpften, blieb unser Familienbild dort hängen.

Das ist eben der Vorteil einer freieren Wirtschaft: Man ist weitaus eher selbst für sein Leben verantwortlich und es kann einem weitaus weniger eine bestimmte Lebensform aufgezwängt werden als bei einem Staat, der alles kontrolliert.

Andererseits scheint das ja andersherum auch in die gleiche Richtung zu gehen: Die russische Frau will auch einen „echten Mann„.

ZEIT ONLINE: Ist das bis heute so geblieben? Gab es eine #MeToo-Debatte?

Narinskaja: Es gab sie, dem Politiker Leonid Sluzki wurde Belästigung vorgeworfen. Aber ihm ist selbst der Frauenclub der Duma beigesprungen. Bei Harvey Weinstein waren sich selbst meine liberalen Freunde einig, dass es als Ja zu werten ist, wenn die Frau mit aufs Hotelzimmer geht. Ist die Tür geschlossen, ist es akzeptiert. Sich erst dreimal absichern zu müssen, das zerstört die Romantik. Dass Frauen das gleiche Recht wie der Mann haben sollten, ihr Nein auch durchzusetzen, das kommt einem Russen fremd vor. #MeToo war deshalb eher ein weiterer Beleg dafür, dass der Westen durchdreht.

Zu dem Fall Sluzki:

Die BBC hatte den Wortlaut eines Gesprächs Sluzkis mit der Journalistin Farida Rustamowa veröffentlicht. „Nein, du läufst vor mir weg, willst dich nicht küssen lassen, ich bin böse auf dich“, sagte der Abgeordnete demnach. Nachdem die Reporterin entgegnete, sie habe einen Freund, den sie heiraten möchte, sagte Sluzki weiter: „Hervorragend, du wirst seine Frau und meine Geliebte sein.“

Als erstes hatte TV Rain die Vorwürfe gegen Sluzki veröffentlicht. Der oppositionelle Internetsender hatte drei anonyme Parlamentsjournalistinnen zitiert. Alle hatten erklärt, Sluzki habe sie berührt und Interviews mit ihm als Gegenleistung für gemeinsame Treffen angeboten.

Der Ethikausschuss des Parlaments kam trotz aller Vorwürfe zum Schluss, dass es bei dem Abgeordneten „keine Verhaltensverstöße“ gegeben habe. Die für Sluzki entlastende Entscheidung hat zu der Protestaktion der Medien geführt.

Da sind natürlich auch wenig Einzelheiten vorhanden, insbesondere dazu, was es für Beweismittel gegeben hat. Ansonsten scheinen die Russen eine eher direkte Einstellung zu der Sache zu haben. Der Gedanke, dass man damit rechnen muss, dass er was versucht, wenn man ihm auf sein Hotelzimmer folgt, ist ja aber auch nicht ganz falsch.

ZEIT ONLINE: Gibt es denn keinen russischen Feminismus, der helfen könnte?

Narinskaja: Wird man in Russland Feministin genannt, wird man gleichzeitig für verrückt erklärt. Uns fehlt leider ein populärer, liberaler Feminismus. Wir haben einige interessante feministische Philosophinnen, Dichterinnen und Künstlerinnen. Die sind aber zu radikal und zu intellektuell, um von vielen russischen Frauen verstanden zu werden.

Ein liberaler Feminismus fehlt überall auf der Welt. Anscheinend sind die Russen in der Hinsicht für wesentlich weniger Bullshit zu haben. Wer zu sehr verklausuliert, der ist nicht erfolgreich.

31 Gedanken zu “Die WM in Russland, russische Frauen und die Fans

  1. „dass es in Russland wohl Unmut darüber gibt, dass sich russische Frauen mit WM-Fans vergnügen.“

    Der Sinn für Humor ist halt oft unterschiedlich.

    Kann nicht jeder so ein 1a Rassist sein wie die beiden im Interview.

      • Direkt an der Stelle.
        Oder ist das keiner, wenn zwei sich daran ergötzen, dass anderen die Kuckuckskinder aus der eigenen Gruppe untergejubelt wurden?

        Ich erkenne da beim Hassprediger ein System.
        Die Lesungen von Mein Kampf hätte er auch besser mal denen gehalten, bei denen es Bestseller ist.

        • Bin erst bei 33:00 und finda da auch nix, außer ein wenig z.T. leicht verkrampft humoristem Geblödel zwecks Aufrechterhaltung der formellen Höflichkeit.
          Was ich von Anfang an sehe ist, daß Serdar ahnt, daß er vorgeführt werden soll, was die Milly mittels Schleimerei zu zerstreuen sucht, während sie parallel schon in ihre Fragen irgendwelche Provokationen reinzumogeln versucht, was eigentlich per se schon ein Beleidigungsversuch, mindestens des Intellekts und der kommunikativen Fähigkeiten Serdars darstellt, weil zwar relativ subtil, aber doch noch viel zu deutlich ( was Wunder, sie zielt ja auf die Wirkung beim Publikum ).

          Daß das später zu Knatsch hinter der Bühne und auf anderen Ebenen geführt hat, erscheint absehbar.

        • @PDLC

          Ach so, dich stören die unehelichen Kinder der türkischen Gastarbeiter mit den DDR-Frauen!

          Schatz, „Kuckuckskinder“ sind nicht – ich versuche mal den gemeinten Sinn deiner Aussage auf den Punkt zu bringen – fremdrassige Kinder, sondern diejenigen, die (in der Regel) ohne Kenntnis des männlichen Ehepartners außerhalb der Ehe mit einem anderen Mann gezeugt worden sind.

          Ist das nicht der Fall, dann handelt es sich auch nicht um Kuckuckskinder.
          Ihr Rechten habt einfach zu viel Umgang mit dem Feminismus gehabt: „broaden the definition and move the goal post“ kenne ich schon.

          Entsage diesem schändlichen Konzept!

          • 😀

            Ganz bestimmt nicht gegenüber einer Gruppe, die ihre Bäuche mit Zähnen, Klauen und Ehrenmorden verteidigt.

          • @PDLC

            Serdar Somuncu gehört nicht zu dieser Gruppe und das weißt du.
            Du schreibst ihn auch nicht an, sondern über ihn hier für uns und meine Kritik bezieht sich auf deinen feministisch inspirierten Versuch, eine neue Definition von „Kuckuckskindern“ zu liefern, die (nicht wirklich zufällig) das alte Konzept der Rassenschande wieder aufzuwärmen versucht.

            Ich habe keine Ahnung, was für ein Problem du mit Frauen hast, aber dein Neid auf diese Männer ist unverkennbar. Wenn diese Männer Väter geworden sind, dann hoffe ich, sie kümmern sich um Frau und Kinder. Mir ist die geografische Herkunft dieser Männer egal.

            Auch das ist feministisch inspiriert: Meine Hautfarbe ist falsch und mein Geschlecht auch; wie ich konkret denke und handle ist völlig unerheblich. Denn Sexistinnen und Rassistinnen behaupten, dies könne man deterministisch aus meiner Biologie ableiten.

            Bitte stimme mit ein in das Hohelied auf das Individuum.
            Heuchler!

  2. Glückliches Land! Selbst die Schweden haben dort alles gegeben, um möglichst lange bleiben zu dürfen, daheim brauchen sie jetzt Unterschriften.

  3. Wer von der „relativen Freiheit unter Lenin“ faselt, ist mir zutiefst suspekt.

    Ansonsten gilt: Die Mehrheit der Russen will den westlichen Lebensstil nicht. Das ist zu akzeptieren, denn es ist weder unsere Aufgabe noch unser Recht anderen Ländern zu diktieren, wie sie zu leben haben.
    Wir schaffen das ja noch nicht einmal im eigenen Land.

    • „Wir schaffen das ja noch nicht einmal im eigenen Land.“

      Du kannst nicht behaupten, dass es in unserem Land keine Leute gäbe, die sich redliche Mühe geben, allen anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben hätten.

    • @Henrik

      „Wer von der „relativen Freiheit unter Lenin“ faselt, ist mir zutiefst suspekt.“

      Lesekompetenz ist sinnvoll – es ist offensichtlich, der Satz bezieht sich auf das nachfolgende, nämlich die „sexuelle Freiheit“. Was historisch korrekt ist, denn in dieser Periode herrschte eine liberale Sexualpolitik.
      Werk u.a. von Alexandra Kollontai: „Nach dem Sieg der Bolschewiki wurde sie am 7. November 1917 von Lenin mit der Leitung des Volkskommissariats für Soziale Fürsorge beauftragt. Sie gehörte als erste Frau dem revolutionären sowjetischen Kabinett an und war damit gleichzeitig die erste Ministerin der Welt.“ Wiki

      Diese Sexualpolitik muss man noch einmal historisch einordnen – hier irrt nämlich die Interviewerin – Lenin starb 1924 und das Stalinsche Abtreibungsverbot wurde bereits 1936 Gesetz; also vor dem zweiten Weltkrieg.

        • Henrik, ich habe gewisse Zweifel.
          Ich schrieb: „denn in dieser Periode herrschte eine liberale Sexualpolitik. Werk u.a. von Alexandra Kollontai“. Ihre Haltung im Wikipedia-Artikel über sie:

          „Kollontai, alleinerziehende Mutter und Volkskommissarin für soziale Fürsorge, setzte in der jungen Sowjetunion durch, dass das Eherecht gelockert und der Mutterschutz verbessert wurde. Sie erkämpfte das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und schlug Volksküchen und kollektive Kindererziehung vor.
          Sie propagierte sogenannte Kommunehäuser sowie freie Liebe (und Sexualität). Diese Ideale versuchte sie in einer Zeit zu verwirklichen, zu der es noch darum ging, die Revolution gegen die Weißen Garden und die Interventionsarmeen zu sichern. Dadurch stieß sie bei Lenin auf Kritik der ihre sexualpolitischen Ansichten als Glas-Wasser-Theorie bezeichnete.“

          D.h. Lenin hatte eine konservativere Einstellung zum Thema Sexualität als Kollontai, was ihn aber nicht daran hinderte, sie trotzdem zur Volkskommissarin vorzuschlagen.

          • Alexandra Kollontai vertrat das Konzept der „freien Liebe“ – das übrigens auch vom Frühsozialisten Charles Fourier vertreten wurde -, womit sie allerdings auf den heftigen Protest von Lenin traf (der pejorativ gemeinte Begriff der „Glas-Wasser-Theorie“ stammt von ihm). Es gibt über dieses Thema einen Briefwechsel zwischen ihm und Clara Zetkin, bei dem man den Eindruck gewinnt, hier unterhielten sich zwei kulturkonservative Spießer über die Verwilderung der sexuellen Sitten.
            Alexandra Kollontai gehörte dann zu Beginn der 20er Jahre innerhalb der Bolschewiki zur „Arbeiteropposition“, die dann mit dem Fraktionsverbot mundtot gemacht wurde. Sie wurde dann – zu ihrem Glück! – als Botschafterin nach Schweden abgeschoben, womit sie den stalinistischen Säuberungen entkam und vor und während des 2. Weltkrieges eine wichtige Rolle in diplomatischen Kontakten zu den Westmächten spielte.
            http://swiki.hfbk-hamburg.de/Lebensreform/152
            http://www.grundrisse.net/grundrisse20/paul_pop.htm

          • @Friedhelm

            Ihre Mann hatte nicht so viel Glück:
            „Während Kollontai Stalin-Anhängerin wurde, wurde ihr Mann, obwohl mittlerweile Admiral, 1938 als Trotzkist erschossen.“ Das war Mann Nummer 2.

            „1893 heiratete sie entgegen dem Wunsch ihrer Eltern ihren Cousin, den sozial niedrigstehenderen Ingenieursstudenten Wladimir Kollontai. Fünf Jahre später verließ sie ihren Mann und Sohn und engagierte sich politisch. („Ich wollte frei sein“ – kommentierte sie diesen Schritt später.)“
            Mann Nummer 1.

          • @ Crumar

            Man weiß natürlich nicht, wie weit Wikipedia hier Klatsch verbreitet. Aber da heißt es bezogen auf Alexandra Kollontai, sie sei von der Partei gezwungen worden, den später von Stalin ermordeten Pawel Dybenko zwecks sexueller Disziplinierung zu ehelichen. “ Dybenko war mit Alexandra Michailowna Kollontai verheiratet. … Sie wurde von Nikolai Wassiljewitsch Krylenko gezwungen, Dybenko zu heiraten, um ihr wildes Liebesleben zu beenden.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Pawel_Jefimowitsch_Dybenko
            Man sieht also, auch unter den Bolschewiki wurde zur Zeit Lenins für „Anstand und Sitte“ gesorgt. Ich selber spreche immer mal wieder halb spaßhaft, als ernsthaft von „der Geburt der Linken aus dem Geist des Puritanismus“. Und da gab es immer wieder Richtungen, die in einem freizügigen Sexualleben nichts weiter sahen als „bürgerliche Dekadenz“.

      • Gemessen an dem was zu dieser Zeit in Russland los war ist es schon infam von „relativer Freiheit“ zu reden.

        „Sexuelle Freiheit“ hilft nichts wenn man gerade zur Zwangsarbeit verdonnert wird, oder als „Kulak“ vertrieben wird.

        • @Benjy

          Vieles von dem, was im Russland der damaligen Zeit passierte lässt sich durch die Brutalisierung des ersten Weltkriegs erklären, der eben in Russland nicht – wie in Deutschland – 1918 endete.
          Danach setzte in Russland nämlich der Bürgerkrieg ein (inkl. Interventionsarmeen).
          „Sexuelle Freiheit“ zu versprechen ist die Realisierung eines Programms, dieses Programm wurde nicht 1914 geschrieben. Darauf hat Friedhelm berechtigt hingewiesen.

  4. Deswegen braucht ein Kapitalismus üblicherweise eine starke Identitätspolitik, ein wir gegen die und eine Form des Nationalismus – Es werden zwar die westlichen Werte besungen und die Einheit des Westens beschworen, aber alle anderen sind eben die Bösen und die Gemeinschaft, die Treue zur Gemeinschaft und der Staat sind sehr wichtig. Es würde mich also nicht verwundern, wenn viele dort gerne das Vakuum, das der Konsumismus hinterlässt mit was auch immer gefüllt haben und gewissen Nationalismus vertreten.

    • Das passt nicht, da derartige Identitätspolitik die Wachstumsmöglichkeiten einschränken würde.

      Was der Konsumismus braucht, sind Individuuen die sich über den Konsum definieren und mit Hilfe des Konsumierens (des richtigen Konsumguts zur richtigen Zeit und dieses passend präsentieren) ihre Stellung in der Gesellschaft und untereinander jeden Tag neu aushandeln.

      Nichts wäre schlechter, als wenn das Individuum sich auf etwas ausruhen könnte. Und dann noch gar auf etwas aus einem glücklichen Zufall heraus geschenktes (wie „Frau sein“ oder „Deutscher sein“)…

  5. Artikel entspricht mal wieder SEHR dem westlichen Blickwinkel auf Russland. Aber nicht nur das Interview von der Zeit.

    Als Livejournaler, da man mit der russischen Internetsphäre sehr in Berührung kommt, fällt es nicht schwer, dazu was zu sagen, denn man bekommt ja das ein oder andere auch mit.

    Erstmal – das mit dem Stigma gegen die Westler resultiert vielmehr aus den Erfahrungen mit dem westlichen Kapitalismus aus diesen Tagen.
    Die westliche Form von Kapitalismus hat so einen Status in Russland, dass man ihn entweder bodenlos beschönigt oder ihn hasst.
    Erstere Kategorie hegt oft die Meinung, die eigenen Leute (die Russen) sind zu dämlich, um Kapitalismus richtig zu machen. Im Westen, da ist der Kapitalismus rein und gerecht und bringt alle Vorzüge, die schon seit den Zeiten des Kalten Krieges von der westlichen Propaganda gepriesen wurden.
    Die andere Kategorie, die den westlichen Kapitalismus verdammt, tut dies häufig auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Konzept. Gerade auch mit Hinblick auf die schlimmen 90er Jahre, als die eigenen Heuschrecken straffrei agieren konnten wie sie wollten.
    Heutzutage haben sich die Wogen zwar etwas geglättet im Gegensatz zu der Zeit (was auch Putin zu verdanken ist, der nach Yeltsin die radikale Gesetzlosigkeit doch spürbar beendet hat), dennoch sind diejenigen, die sich in der Zeit an allem bereichert haben, was die Sovietunion hergab, heute in ihren Handlungsschemata immer noch dasselbe Kaliber. In vielen Dingen sind sie eingekauft, sie haben die nötigen Mittel, um sich Behörden und Justiz zu erkaufen, die wegsehen, ja selbst sogar ein paar Schlägertrupps loszuschicken, wenn jemand ihnen ihre krumme Tour versaut oder ans Licht der Öffentlichkeit bringt.
    Unter ihrer Ägide, jetzt unter kapitalistischem System, zählst du als normaler Durchschnittsbürger und Arbeiter nichts. Du bist ein entbehrbares Subjekt. Und das System herrscht landauf, landab.
    Wer’s also (damals) nicht geschafft hat, irgendwo in den Westen abzuhauen, oder sich daheim in der Hierarchie irgendwie nach oben zu gaunern, der gehört zu denen, die schnell unter die Räder kommen können – und von daher hat der Kapitalismus den Russen (dem Durchschnittsbürger) nicht viel gebracht im Vergleich zu früher.

    Im Übrigen, sollte man auch dazu sagen, ist die Sovietunion in Russland selbst gar nicht so negativ konnotiert wie das hierzulande mit der DDR ist oder wie das beispielsweise offiziell im Baltikum betont wird.
    Offiziell wird das in Russland vielleicht niemand sagen, aber unter dem Fußvolk selbst ist sie gar nicht so negativ belastet. Eben aber auch, weil die heutigen Zeiten als Vergleich herhalten müssen, in denen es so einigen wesentlich schlechter geht als noch damals.

    Für die obrige Titelzeile sei dann auch noch was zu russischer Gesellschaft selbst gesagt:

    Russische Gesellschaft selbst hat irgendwo einen konservativen Stich, den sie aber nie grundsätzlich richtig los geworden ist.
    In der russischen Gesellschaft scheint es z. B. auch noch üblich zu sein, dass Schwule Alibi-Familen haben und sich eher verdeckt ausleben. Das hat aber nichts mit den Taktiken des Westens zu tun, um über jegliche Form von Aktivismus in Russland wieder einen Keil reinzukriegen, sondern das hat mit diesem bereits verwurzelten Konservatismus zu tun. In der jüngeren Zeit dürfte der erste Umstand wohlmöglich auch seinen Beitrag dazu leisten, dass die Abneigung gegenüber Homosexuellen (und gegenüber dem ganzen Sexualitätsthema) wieder etwas gestiegen ist.
    In der neueren Zeit dürfte diese generelle stärkere Verwurzelung von konservativen Eintstellungen mit dem Wiedererstarken der Kirche in Russland zu tun haben. (So wie es immer ist – geht es den Leuten am dreckigsten, laufen sie alle zur Kirche…)
    Es ist zwar nicht so, als wäre ihr Status jemals gänzlich weggefallen (dafür hat sie einfach zu lange Verwurzelung in Russland selbst); es war auch schon in früheren Zeiten so, dass der letzte Groschen zu Kirche ging anstelle in ein Stück Brot und dass man, wenn man Reichtum in einer russischen Gemeinde gesucht hat, man besser in der Dorfkirche danach schauen sollte.
    Jedoch fällt es einem auf, dass damit ein oder anderer Kram wieder zurück kommt, den man schon – wenn man Russen selbst zuhört, die von dem Umstand nicht erfreut sind – ausgemustert geglaubt hatte (auch mit Blick auf anderen Konfessionen der christlichen Religion).
    Auch vieles von dem neueren Patriotismus-Gedöns hängt bei den Russen mit der Kirche zusammen, weil sie in dem Filter als eine Art exklusives russisches Kulturgut gesehen wird… (Blödsinn – Russland war schon immer ein Vielvölkerstaat.)

    Was es in russischer Gesellschaft, ob Sovietzeit als auch westliche Zeiten, schon immer gegeben hat, war der Stamm der Frauen, die sich über den Status des Mannes definiert hat.
    Auch solche darunter, die sich zielgerichtet einen Mann mit hohem Status und voller Brieftasche angelacht haben, um selbst ausgesorgt zu haben und sich was leisten zu können.
    Heute dürfte es sie noch genauso geben. (Ich glaube, das Phänomen kann man über ganz Osteuropa verteilt finden.)
    Ja – solche Frauen, wann würden sie das bei einem einheimischen Mann erhalten? Diejenigen, die das hätten, an die kämen sie nicht ran, weil sie dafür in eine viel zu niedrige Gesellschaftsschicht geboren sind – Reiche feiern eben unter sich und schotten sich vom Pöbel ab. Das ist in jeder Gesellschaft so.
    Und der Rest, der übrig bleibt – entweder ein mehr oder minder ausgeprägtes Alkoholproblem inklusive, auf jeden Fall wird ein durchschnittlicher russischer Mann in dem Land nicht reich. Nichts da mit dem „ausgesorgt haben“ und „sich was leisten können“.
    Mit Westlern sieht die Sache anders aus. Euros, Dollars, früher sogar noch D-Mark waren immer viele, viele Rubel wert, konnten sich einiges kaufen. Zudem ziehe noch den Fakt hinzu, dass es in der offiziellen Medienpropaganda des Westens immer keine Armen in den eigenen Gefilden gibt – d. h. solche Frauen sind immer noch mit dem Mythos ausgestattet, dass jeder westliche Mann reich ist. Auch wenn das beileibe nicht stimmt.
    Nebenbei haben sie noch ein oder andere charakterlichen Eigenschaften an sich, die den heimischen Männern nicht unbedingt eigen sind, durch die unerfahrene Frau in den Glauben gerät „na, die können alles schaffen! die sind immer erfolgreich!“, was dann den Schluss „da habe ich garantiert ausgesorgt!“ nach sich ziehen kann.

    Unter dem Gesichtspunkt sollte man mal dieses ganze Anbändeln mit Westlern sehen.

    Bei den Russen selbst sieht man es nicht gern, weil, einerseits wegen dem Kapitalismus, der ihnen gesellschaftlich nichts gebracht hat, andererseits wegen der vielen Versuche der letzten 5 Jahre eine fünfte Kolonne aufzubauen, die ihren Präsidenten stürzt und den Staat zerstört (damit seine Rohstoffe billig an den Westen verscherbelt werden können), und dritterseits, weil diese Anbändelungen mit dem Westlern gerade wieder nur von der Fraktion Frau betrieben wird, die sich in der Regel selbst etwas zu wichtig nehmen, und die das Prinzip „Made im Speck“ praktizieren wollen. Die sich jedem an den Hals werfen, dessen Brieftasche nur gut gefüllt ist, um fein raus zu sein.

    Die Art von Parasitismus scheint unter den Russen heute auch so nicht gern gesehen zu sein – in Anbetracht, was all ihre anderen Parasiten in Anzügen so betreiben und womit sie ungeschoren davonkommen.

  6. Das ist eben der Vorteil einer freieren Wirtschaft: Man ist weitaus eher selbst für sein Leben verantwortlich und es kann einem weitaus weniger eine bestimmte Lebensform aufgezwängt werden als bei einem Staat, der alles kontrolliert.

    Auch im Sozialismus war man für sein Leben selbst verantwortlich. Durch die geringere soziale Sicherheit und Solidarität sowie den Konkurrenzfetisch kommt es im „Kapitalismus“ leider immer wieder zu unschönen Mißlichkeiten wie Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, sozialer Verwahrlosung, Prostitution, grassierender Kriminalität, Bildungsselektivität, Zwangsräumungen, Drogensucht, dekadentem Reichtum, Lobbyismus, Filz und vielem mehr.

    Die Individuen sind narzißtischer, egozentrischer, autistischer. Das innere Mangelsyndrom wird mit dem Fetisch des Geldes und Besitzes kompensiert. Die Geschlechterbeziehungen sind weniger modern und emanzipiert. Männer dringen z.B. stärker darauf, daß Frauen weniger verdienen, weniger Status haben etc. Bei Frauen ist es umgekehrt.

    Na ja, und dann dieses Besserwessitum, diese ganzen Wessis, die unglaublich überzeugt von sich sind und „abgeklärt“ und gar nicht sehen, wie der materielle Reichtum, das Konsumstreben die seelische und soziale Armut übertünchen sollen.

    Freilich hatte der Sozialismus auch Nachteile: Es gab keine Porsches und keine SUVs.

    • „Auch im Sozialismus war man für sein Leben selbst verantwortlich.“

      Um zu klären, in welchem System mehr Selbstverantwortung herrscht, muss man, denke ich, erst einmal klären, was „Selbstverantwortung“ ist. Man kann definieren: *Die Fähigkeit, aus eigener Kraft seine eigene Existenz zu sichern*. In den modernen Gesellschaften kann das streng genommen niemand: Ich esse gerade einen Apfel, den ich nicht angebaut habe; und Käsebrote, ohne exakt zu wissen, wie man Käse herstellt. Jeder braucht irgendwie das Gefüge von Industrie, Landwirtschaft, Dienstleistern, Verwaltungsstellen, etc. außen um sich herum, um zu existieren — die einzige Ausnahme wäre ein extremer Selbstversorger, der es schafft, ohne äußere Hilfe in der Wildnis zu überleben.
      Es hat sich in allen komplexeren Staatswesen weltweit durchgesetzt, Zahlungsmittel zu nutzen — symbolische Gegenstände ohne realen Eigenwert, die man gegen Güter und Dienstleistungen eintauschen kann. Um zu existieren, braucht man also in der Regel Geld — das man nicht selbst herstellen darf (Ausnahme: Kryptowährungen!), sondern von anderen Menschen erhält, indem man sie durch irgendwelche Handlungsweisen überzeugt, es einem zu geben. Selbst von einem ALG-II-Empfänger wird eine gewisse Gegenleistung erwartet: Er muss immerhin den Antrag ausfüllen und abgeben und das Jobcenter überzeugen, dass er die Unterstützung dringend benötigt. Auch der Unternehmer ist in diesem Sinne nicht so frei, wie die Libertarians ihn gerne sehen, sondern der „Angestellte seiner Kunden“. Stellt sein Betrieb nur Dinge her, die niemand haben möchte, verdient der Unternehmer kein Geld. (**husthust Locomore husthust**)

      In den Hammer-und-Sichel-Republiken herrschte das gleiche Prinzip wie in den westlichen Staaten: Man erbrachte irgendwelche Arbeitsleistungen und erhielt dafür Geld. Der Unterschied war allerdings, dass diese Nationen, je nach Sichtweise das Recht auf bzw. die Pflicht zur Arbeit gesetzlich eingeführt hatten. Dies garantierte eine fast perfekte Entlassungssicherheit. Der Arbeiter bekam auch dann noch sein Gehalt, wenn er es gemütlich angehen ließ. Dies nahm in der Tat etwas Verantwortung von seinen Schultern — denn der Druck, die geforderte Arbeitsleistung zu erbringen, sank natürlich –, drosselte aber auch den industriellen Ausstoß dieser Wirtschaftssysteme in hohem Maße. Und wenn jemand sich weigerte, eine reguläre Arbeit zu suchen — beispielsweise, weil er lieber mit seiner Punk-Band über Land touren wollte –, dann fand er sich nur zu rasch in Hoheneck oder Torgau wieder.

      „unschöne Mißlichkeiten im Kapitalismus“

      Obdachlosigkeit ~~ Ja, kann ein Problem sein, zumindest in Ländern, in denen die Temperaturen unter Null gehen.

      Arbeitslosigkeit ~~ Ich kenne viele Leute, die trotz Hartz-IV ein glückliches und erfülltes Lebens haben.

      soziale Verwahrlosung ~~ Bin mir nicht ganz sicher, was darunter zu verstehen ist. Bildungsfernes Milieu gab es auch in der DDR.

      Prostitution ~~ gibt es seit Jahrtausenden in allen Nationen der Erde, unabhängig vom Wirtschaftssystem.

      grassierender Kriminalität ~~ Ja, kann zum überhandnehmenden Problem werde, vor allem in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit und gering ausgebautem sozialem Netz. Stichwort Detroit/“Rust Belt“.

      Bildungsselektivität ~~ Es gab Aspekte der Hammer-und-Sicher-Nationen, die man sich durchaus mal anschauen kann: Ich meine hier die Bildung im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich. Den Machthabern war klar, dass sie, um die Staatswirtschaft aufzubauen, viele Ingenieure und Techniker brauchten, folglich waren Schul- und Hochschulunterricht in Physik, Mathematik, Elektrotechnik, Kerntechnik u.ä. ausgezeichnet. In den Humanwissenschaften sah es eher schmalbrüstig aus (es musste eben alles in die Schablone des Marxismus-Leninismus gepresst werden: Sogar die Geschichten über Till Eulenspiegel wurden in diesem Sinne neuinterpretiert, mit Till als proletarischem Freiheitskämpfer!), ebenso in den theoretischen Naturwissenschaften. Mein Diplom-Betreuer, ein theoretischer Astrophysiker aus Sankt Petersburg/Leningrad, formulierte es so: „Wir wurden als Pestbeulen auf dem gesunden Körper des Proletariats angesehen.“

      Zwangsräumungen ~~ Wie gesagt, Obdachlosigkeit kann ein Problem des Kapitalismus sein, siehe oben.

      Drogensucht ~~ Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Sowjetbürger Wodka soffen wie die Gullis.

      dekadentem Reichtum ~~ Klingt nach einem propagandistischen Kampfbegriff — was genau soll das sein? Was unterscheidet dekadenten von weniger dekadentem Reichtum? Kann es nicht auch dekadente Armut geben?!

      Lobbyismus, Filz ~~ Äh… dir ist schon klar, was die Sowjetunion für einen aufgeblähten bürokratischen Monsterapparat hatte, mit Bestechung und Filz noch und nöcher…?!

      „Individuen sind narzißtischer, egozentrischer, autistischer“ ~~ Mag sein.

      „Die Geschlechterbeziehungen sind weniger modern und emanzipiert.“ ~~ Inwieweit kann man von Emanzipation sprechen, wenn diese durch Verordnungen von oben erzwungen werden muss…?

      „Freilich hatte der Sozialismus auch Nachteile: Es gab keine Porsches und keine SUVs.“
      Dafür hatte er ja so tolle Einrichtungen wie Hoheneck, Torgau, Gulags, die Mauer, Schießbefehle, Folterungen, den Inlands-Arm des Stasi, unzählige Aufpasser und Kontrollettis und Fackelzüge vorbei an den Mächtigen. Meinungsfreiheit, Freiheit der Kunst, Reisen ins westliche Ausland? Fehlanzeige!

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