Sind übermüdete Ärzte ein Verkehrsrisiko?

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100-Stunden-WochenSind übermüdete Ärzte ein Verkehrsrisiko?

Ärzte, die sich nach einer Mammut-Schicht ans Steuer setzen, gefährden laut einer Nationalrätin sich und andere Verkehrsteilnehmer. Sie fordert die Spitäler zum Handeln auf.

Julia Käser
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Julia Käser

«165 Prozent mehr Verkehrsunfälle verursachen Ärzte, die gerade eine 24-Stunden-Schicht hinter sich gebracht haben, im Vergleich zu anderen», sagt Yvette Estermann. Die SVP-Politikerin reichte im Nationalrat einen Vorstoss mit dem Titel «Genügend Schlaf für alle!» ein.

Darin verweist Estermann auf eine Studie aus Amerika, die zeigt, dass Schlafmangel bei Medizinern zu Fehlern bei der Patientenbehandlung sowie häufigeren Verkehrsunfällen führt. Während der erste Punkt bereits rege diskutiert wurde, ist der Link zu erhöhter Unfallgefahr im Verkehr relativ neu. Für die Nationalrätin ist dies ein Grund mehr, sich gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen im Ärztebereich zu stellen. Mit dem Vorstoss wolle sie ein gesteigertes Bewusstsein für die Problematik schaffen. Sie wünscht sich mehr Schutz für junges ärztliches Personal.

Ärzte fühlen sich ausgelaugt

Die britische Tageszeitung «The Guardian» schrieb im Sommer 2017 über das hohe Verkehrsunfallrisiko von Assistenzärzten der dortigen nationalen Gesundheitsdienste NHS. Im Rahmen einer repräsentativen Umfrage gab mehr als die Hälfte des befragten ärztlichen Personals an, auf dem Nachhauseweg einen Verkehrsunfall oder Beinahezusammenstoss erlebt zu haben. Weiter berichteten 84 Prozent der Umfrage-Teilnehmenden, dass sie sich nach dem Dienst im Grunde oft zu müde fühlen würden, um nach Hause zu fahren.

Laut einer repräsentativen Umfrage des Verbands Schweizer Assistenz- und Oberärzte (VSAO) mit mehr als 3000 Teilnehmern klagen junge Ärzte in der Schweiz zunehmend über Müdigkeit. Obwohl laut Arbeitsgesetz eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 50 Stunden gilt, werde diese Vorschrift in den Spitälern weiterhin regelmässig missachtet – und die Überzeit vielfach gar nicht erfasst, so das Fazit. «Dass diese Situation auch für die Patienten Gefahren birgt, ist den Betroffenen bewusst und belastet sie zusätzlich», sagt VSAO-Sprecher Marcel Marti.

«Nicht alle können den ÖV nehmen»

Angelo Barrile, Arzt und SP-Nationalrat, kann dies anhand eigener Erfahrungen bestätigen. Er selbst sei zwar stets mit dem ÖV nach Hause gefahren, wäre aber nach 100 Arbeitsstunden in sieben Tagen ohnehin nicht mehr in der Lage gewesen, sich hinters Steuer zu setzen. «Aufgrund der ungewöhnlichen Arbeitszeiten ist die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln aber nicht für alle Ärzte möglich», fügt der Nationalrat und VSAO-Vizepräsident hinzu.

Barrile, der genau vor einem Jahr eine bis heute nicht behandelte Motion zum Thema Arbeitszeiten in Spitälern eingereicht hat, hat grosse Sympathien für das Anliegen Estermanns. 24 Stunden ohne Schlaf habe die gleichen körperlichen Auswirkungen wie ein Promille Alkohol im Blut. «Mit einem Promille lässt man auch niemanden mehr Auto fahren – und schon gar nicht operieren!» Die Forderung nach strikter Einhaltung des Arbeitsgesetzes im medizinischen Bereich diene nicht nur dem Patientenschutz, sondern auch jenem des ärztlichen Personals, das ebenfalls direkt unter den Risiken der Überarbeitung leide.

«Weniger lange Strecken als in den USA»

Uwe Ewert, Verkehrspsychologe bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu), betrachtet die hiesigen überarbeiteten Medizinerinnen und Mediziner allerdings nicht direkt als Risikogruppe für Übermüdung am Steuer. In der Schweiz werde oft auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgegriffen, so Ewert. Zudem würden ohnehin weniger lange Arbeitswege zurückgelegt als etwa in den USA, wo die von Estermann zitierte Studie durchgeführt wurde.

Auch Spitäler sehen ihre Ärzte nicht als Verkehrsrisiko: Dajan Roman, Sprecher des Kantonsspitals Graubünden in Chur, sagt beispielsweise, dass die besagten 24-Stunden-Schichten zumindest in seinem Spital nicht mehr existierten, da das Gesetz höchstens 10-stündige Arbeitstage vorsieht.

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