Gastkommentar

Wir Verdrängungskünstler: wie das Coronavirus uns verändert

Leugnen, bis es nicht mehr geht: Der Mensch überspielt die ernsten Gefahren nach Möglichkeit. Und er hat Mühe, zu akzeptieren, dass ein kleines Virus so viel stärker ist als er selbst.

Slavoj Žižek
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Ein Zeichen des Verhandlungsversuchs? – In diesem Supermarkt in Pioltello nahe Mailand leeren sich die Regale.

Ein Zeichen des Verhandlungsversuchs? – In diesem Supermarkt in Pioltello nahe Mailand leeren sich die Regale.

Flavio Lo Scalzo / Reuters

Über unsere Reaktionen auf die Coronavirus-Epidemie können wir vielleicht von der schweizerischen Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross etwas lernen. Sie schilderte in «Über den Tod und das Leben danach» die fünf Stadien, wie wir auf die Mitteilung reagieren, dass wir an einer tödlichen Krankheit leiden.

Erstens: Verleugnung (man weigert sich einfach, die Tatsache anzuerkennen: «Das kann mir nicht passieren, mir doch nicht»). Zweitens: Wut (sie bricht aus, wenn wir die Tatsache nicht länger leugnen können: «Wie kann das mir geschehen?»). Drittens: Verhandeln (die Hoffnung, wir könnten die Tatsache irgendwie hinausschieben oder herunterspielen: «Wenigstens so lange, dass ich den Schulabschluss meiner Kinder erlebe»). Sodann: Depression («Ich werde bald sterben, warum also sollte mich noch irgendetwas kümmern?»). Zuletzt: Akzeptieren («Ich kann nicht dagegen ankämpfen, also kann ich mich ebenso gut darauf vorbereiten»).

Ökologie, Kontrolle, Pest

Diese fünf Stadien kann man auch dann erkennen, wenn eine Gesellschaft mit einem traumatischen Einschnitt konfrontiert ist. Nehmen wir beispielsweise die Gefahr einer ökologischen Katastrophe: Zunächst neigen wir dazu, sie zu leugnen (nichts als Paranoia, in Wirklichkeit sind das nur die üblichen Schwankungen in den Wettermustern).

Ein Zeichen des Verhandlungsversuchs? – In diesem Berliner Supermarkt leeren sich manche die Regale.

Ein Zeichen des Verhandlungsversuchs? – In diesem Berliner Supermarkt leeren sich manche die Regale.

Emmanuele Contini / www.imago-images.de

Dann kommt die Wut (auf grosse Unternehmen, die unsere Umwelt mit Schadstoffen belasten, auf die Regierung, die die Gefahren ignoriert), auf die das Verhandeln folgt (wenn wir unseren Abfall wiederverwerten, können wir uns eine gewisse Zeit erkaufen; ausserdem hat das auch gute Seiten, wir können auf Grönland Gemüse anbauen, Schiffe können Waren über die Nordroute viel schneller von China in die USA befördern, wegen des tauenden Permafrosts wird in Nordsibirien neues fruchtbares Land verfügbar . . .). Es entsteht die Depression (es ist zu spät, wir sind verloren . . .), und schliesslich bricht sich die Akzeptanz Bahn – wir haben es mit einer ernsten Bedrohung zu tun, und wir werden unseren Lebensstil komplett ändern müssen!

Digitales Risiko

Das gilt auch für die zunehmende Gefahr digitaler Kontrolle unseres Lebens: Zunächst neigen wir dazu, sie zu leugnen (das ist eine Übertreibung, Paranoia der Linken, keine Behörde kann unsere alltäglichen Aktivitäten kontrollieren . . .); dann bricht Wut aus (auf grosse Unternehmen und auf die geheimen staatlichen Stellen, die uns besser kennen als wir selbst und dieses Wissen dazu nutzen, um uns zu kontrollieren und zu manipulieren).

Anschliessend folgt das Verhandeln (die Behörden haben das Recht, Terroristen aufzuspüren, aber nicht, unsere Privatsphäre anzutasten . . .), dann die Depression (es ist zu spät, unsere Privatsphäre ist verloren, die Zeit persönlicher Freiheit ist vorbei) und schliesslich die Akzeptanz: Digitale Kontrolle bedroht unsere Freiheit, wir sollten der Öffentlichkeit all ihre Dimensionen bewusstmachen und damit anfangen, sie zu bekämpfen!

Im Mittelalter reagierte die Bevölkerung einer von der Pest heimgesuchten Stadt auf die Anzeichen der Krankheit ähnlich. Zunächst Verleugnung, dann Wut (auf unser sündiges Leben, für das wir bestraft werden, oder gar auf den grausamen Gott, der die Seuche zugelassen hat), dann Verhandeln (es ist nicht so schlimm, meiden wir doch einfach die Kranken . . .), dann Depression (unser Leben ist vorbei . . .) und anschliessend interessanterweise Orgien (weil das Leben vorbei ist, wollen wir alle Freuden auskosten, die noch möglich sind – Trinken, Sex . . .) – und am Ende Akzeptieren: Da sind wir nun, wir sollten uns einfach so verhalten, als ginge das normale Leben weiter.

Die neue Unsicherheit

Und gehen wir nicht auch mit der Ende 2019 ausgebrochenen Coronavirus-Epidemie auf diese Weise um, in geradezu exemplarischer Art und Weise?

Zunächst Verleugnung (nichts Ernstes, nur ein paar verantwortungslose Individuen, die Panik verbreiten). Dann Wut (gewöhnlich rassistisch oder gegen den Staat gerichtet: Die schmutzigen Chinesen sind schuld, unser Staat handelt nicht effizient . . .). Dann folgt Verhandeln (okay, da gibt es ein paar Opfer, aber es ist weniger gefährlich als Sars, und wir können den Schaden gering halten . . .). Wenn das nicht funktioniert, kommt Depression auf (wir sollten uns nichts vormachen, wir sind alle dem Untergang geweiht). Aber wie würde Akzeptieren hier aussehen?

Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass diese Epidemie etwas an sich hat, das auch bei der letzten Runde sozialer Proteste (in Frankreich oder in Hongkong) zu beobachten ist: Sie brechen nicht aus und verschwinden dann wieder. Vielmehr bleiben sie und gehen immer weiter; sie bringen dauernde Furcht und Unsicherheit in unser Leben.

Was wir zu akzeptieren haben und womit wir uns abfinden sollten, ist die Existenz einer in einer tieferen Schicht vorhandenen Lebensform – das untote, stumpfsinnig repetitive, präsexuelle Leben von Viren, die schon immer da waren und uns immer wie ein dunkler Schatten begleiten werden. Sie stellen eine Gefahr für unser Überleben dar und brechen aus, wenn wir es am wenigsten erwarten.

Auf einer allgemeineren Ebene werden wir von Virus-Epidemien an die ultimative Zufälligkeit und Bedeutungslosigkeit unseres Lebens erinnert. Welche grossartigen spirituellen Gebäude wir als Menschheit auch immer hervorbringen mögen – eine geistlose natürliche Kontingenz wie ein Virus oder ein Asteroid kann alles beenden, ganz zu schweigen von der Lektion der Ökologie, die darauf hinausläuft, dass wir, die Menschheit, auch ungewollt zu diesem Ende beitragen könnten.

Solidarität oder pures Überleben?

Doch diese Akzeptanz kann zwei Richtungen einschlagen. Es kann eine schlichte Renormalisierung von Krankheit bedeuten: Okay, da werden Menschen sterben, aber das Leben geht weiter, und vielleicht ergeben sich sogar ein paar gute Nebenwirkungen. Oder das Akzeptieren kann uns dazu bringen, uns ohne Panik und Illusionen zu engagieren.

Wäre dies das Fundament für kollektive Solidarität? Oder ist es dessen Gegenteil, weil sich alle bloss um das eigene Wohlergehen (und Überleben) kümmern?

Das ist die grosse Frage dieser Tage. Die Antwort kennen allein die Historiker der Zukunft.

Slavoj Žižek ist Philosoph und Psychoanalytiker. Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.