Alles wäre nicht passiert, wenn. Wenn Tisi etwas weniger getrunken hätte. Wenn er an der richtigen Haltestelle ausgestiegen wäre. Wenn es geregnet hätte. Wenn er vorher einen Moment länger nachgedacht hätte. Tisi würde jetzt nicht im Rollstuhl sitzen. 

Ein warmer Sommerabend im August 2013. Tisi ist 18 Jahre alt und hat gerade Ferien. Mit seinen Freunden zieht er durch die Münchner Kneipen. Sie trinken viel, feiern, noch einmal frei zu haben. Als Tisi die Bar am nächsten Morgen verlässt, ist es schon hell. 

Tisi heißt eigentlich Matthias Sautier. Seine Schwester hat ihn Tisi genannt, als sie klein waren. Tisi ist sportlich, 1,80 Meter groß, gut aussehend. Das dunkelblonde Haar lockt sich an den Schläfen, seine Augen haben unterschiedliche Farben: das eine grün, das andere eher blau. Wenn er lacht, legen sich kleine Fältchen um die Augen und sein Mund verzieht sich zu einem breiten Lächeln. Tisi hat einen Ruhepol, seinen Zwillingsbruder Balu, ein Spitzname für Valentin. Wenn Balu seinen Bruder mit nur einem Wort beschreiben sollte, dann ist es wild. Tisi ist der Laute, Ausgelassene, ständig aktiv.

Auf dem Weg nach Hause rauscht Tisi der Restalkohol im Kopf. Der Weg bis zu seinen Eltern ist weit, er versucht, ein Rad zu klauen. Ein Streifenwagen hält ihn an, nimmt ihn mit auf die Wache: 1,7 Promille hat Tisi im Blut. Die Polizisten sind milde und lassen ihn wieder gehen. Tisi nimmt die Tram nach Hause, schläft ein. Es ist neun Uhr, vielleicht zehn, die Sonne scheint, Vögel zwitschern, als er aussteigt.

Warum nicht jetzt?

Die Tramhaltestelle Schloss Nymphenburg liegt direkt an der Ludwig-Ferdinand-Brücke. Tisi fallen Facebook-Fotos ein: Leute springen von einer Brücke in den Nymphenburger Schlosskanal. Eigentlich könnte er da jetzt auch reinspringen. Nur einmal kurz abkühlen und dann nach Hause, schlafen. Er wollte das schon immer mal machen, warum nicht jetzt?

Wenn Tisi heute erzählt, ist seine Stimme ganz ruhig. Manchmal macht er Pausen, in denen er Worte sucht, mit Bedacht formuliert. Er hat schon viel über seine Situation nachgedacht. Wie sein Leben wäre, wenn dieser eine Tag im August vor fünf Jahren anders verlaufen wäre. Nur darüber reden, was in ihm vorgeht, das macht er nicht so oft. "Ich hab immer versucht, mir nicht dir Frage zu stellen: Wie sieht der Rest meines Lebens aus? Wie würde er aussehen? Wäre ich glücklicher? Aber ganz abstellen kann man die Fragen nicht."

Tisi fliegt schon

Tisi schlüpft aus seinen Espandrilles, er legt Nepalhose, Hemd und T-Shirt ordentlich auf den Boden. Als er sich aufrichtet, dreht es sich noch ein bisschen im Kopf. Der Morgen ist zu schön, um nachzudenken. In Boxershorts klettert er auf die Steinbalustrade und springt: ein astreiner Kopfsprung. Hinter ihm hört er noch eine Frau "Stopp!" schreien – aber Tisi fliegt schon. 

In diesem Moment weiß er noch nicht, dass es einen Unterschied macht, von welcher Brücke man springt. Dass die Brücke zwar keine drei Meter hoch ist, aber doch höher als die Gerner Brücke auf den Fotos. Dass das Wasser hier flacher ist, kaum einen halben Meter tief. Dass es eigentlich Wahnsinn ist, hier in den Kanal zu springen. 

Das Nächste, was Tisi spürt, ist ein Schlag auf die Schädeldecke. Er verliert die Kontrolle über seinen Körper, die Orientierung, die Wahrnehmung für die Umgebung. Er taucht mit dem Bauch nach oben wieder auf, spürt ein dumpfes Gefühl im Kopf, einen sonderlichen Geschmack im Mund. Etwas anderes spürt er nicht mehr: seine Beine. Leute kommen angerannt, ziehen ihn aus dem modrigen Wasser, fragen ihn, warum er das gemacht hat. Jemand ruft einen Krankenwagen. 

"Als die ganzen Leute kamen, da hab ich gemerkt, dass irgendwas ganz Gravierendes passiert ist."
Tisi

Zweieinhalb Jahre später sitzt Tisi am Holztisch in der Küche seiner Mutter und ihrer Lebenspartnerin. Nach dem Unfall ist er dort eingezogen. Vor ihm steht eine Tasse Tee, während er redet, schaut er auf die Hände in seinem Schoß. "Als die ganzen Leute kamen, da hab ich gemerkt, dass irgendwas ganz Gravierendes passiert ist." Dann legen sich Lachfältchen um seine Augen. "Aber ich konnte meine Arme bewegen, und das hat mich in dem Moment ziemlich glücklich gemacht." 

Sechs Stunden musste Tisi operiert werden. Bei seinem Sturz hat der unterste Halswirbel den obersten Brustwirbel zertrümmert. C8, der unterste Halsnerv, wurde dabei verletzt. Die Ärzte bauen ihm eine Titanplatte zur Stabilisierung ein. Von den Brustwarzen abwärts ist Tisi seitdem gelähmt.