Samstag, Dezember 07, 2019

Bundesrichter Thomas Fischer: "Dieses Argument steht mit beiden Beinen im rassistischen Sumpf" – News vom 7. Dezember 2019

1. In der aktuellen "Zeit" haben Elisabeth Raether und Michael Schlegel ein Dossier veröffentlicht, in dem sie 116 Fälle schildern, bei denen eine Frau von ihrem männlichen Partner oder Ex-Partner brutal ermordet wurde. Es erstaunt, dass diese Form von Journalismus in einem politisch-publizistischen Lager stattfindet, das sich sehr empört, wenn etwa die "Bild"-Zeitung ähnlich reißerisch über Fälle berichtet, bei denen Zuwanderer als Gewalttäter in Erscheinung getreten sind. (Wobei die "Bild" auf eine Darstellung a la "116 Fälle von Ausländergewalt" meines Wissens bislang verzichtet hat.) Erfreulicherweise verschafft uns der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer auf Spiegel-Online ein Gegengift zu der mehr als fragwürdigen Berichterstattung der "Zeit".

Nachdem Fischer einen verquasten Absatz Elisabeth Raethers in einem früheren männerfeindlichen "Zeit"-Artikel auseinandergenommen hat, stellt er klar:

Richtig ist, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik die Anzahl von Taten unter dem Gesichtspunkt "Partnerschaftsgewalt" erfasst (zuletzt: Bundeskriminalamt, "Partnerschaftsgewalt", Berichtsjahr 2018). Für das Jahr 2018 sind insgesamt 144 Fälle von Tötungsdelikten in "Partnerschaften" registriert: Opfer waren in 77 Prozent der Fälle Frauen, in 23 Prozent der Fälle Männer.

(...) Die [Polizeiliche Kriminalstatistik] beschreibt bekanntlich einen Teil des sog. "Hellfelds". Das "Dunkelfeld" ist nicht erfasst. Es dürfte im hier betroffenen Tatbereich hoch sein (wobei die vielfach berichtete Erkenntnis, "jede dritte Frau" sei Opfer, wenig erhellend ist). Vor allem im Bereich der einfachen Körperverletzung ist die Anzeigenbereitschaft allgemein gering. Sie ist aber auch geschlechtsspezifisch und sozial sehr unterschiedlich: Die Bereitschaft von Frauen, Körperverletzungen durch Partner anzuzeigen oder sonst zu skandalisieren (Beratungsstellen Frauenhäuser, Ärzte, Scheidungsverfahren), ist stark gestiegen und dürfte deutlich höher sein als die Anzeigeneigung von männlichen Opfern. Das gilt in allen Altersstufen, insbesondere auch in höherem Alter, wenn Männer ihren Partnerinnen nicht mehr körperlich über-, sondern oft unterlegen sind: Wenige gebrechliche alte Männer dürften Strafanzeige stellen, weil sie von Lebenspartnerinnen geschlagen, geschubst oder eingesperrt werden.

Unterschiedlich ist auch die Bereitschaft, Anzeigen ernst zu nehmen. Wenn ein erwachsener Mann ins Polizeirevier geht und anzeigt, seine Freundin habe ihn geohrfeigt, dürfte die Wahrscheinlichkeit hoch sein, dass er nicht ernst genommen wird. Die Gründe sind vielfältig und können hier dahinstehen.

Das ändert natürlich weder etwas daran, dass 80 Prozent der registrierten Gewaltopfer Frauen und 80 Prozent der registrierten Tatverdächtigen Männer sind. (Am Rande sei bemerkt, dass Frauen auch von Frauen und Männer auch von Männern misshandelt werden.) Umso befremdlicher ist es, dass in der Berichterstattung, noch mehr in der Kommentierung auch diesmal wieder die Zahl der Opfer durchweg um 20 Prozent gekürzt wurde. Anders gesagt: Die männlichen Opfer (26.000 Personen im HELLFELD!) kommen im Empörungs-Rauschen so gut wie nicht vor - als seien 26.000 mehr oder weniger schwer Verletzte und 25 Tote gar nicht der (kriminalpolitischen) Rede wert. Auch im "Zeit"-Stück werden sie gar nicht erst erwähnt. Dies zu kritisieren zielt nicht auf wohlfeiles "Mitleid mit Männern". Interessant sind vielmehr die Argumente, mit denen schon die Möglichkeit von Mitleid (opferdeutsch: Empathie) regelmäßig abgewehrt wird.

Eine gern benutzte Einwendung lautet: Was sind 25 tote Männer im Angesicht von 120 toten Frauen? Solche Aufrechnung wird in anderen Fällen zu Recht als opferverachtende "Relativierung" gegeißelt. Noch verdrehter ist dies: Die meisten Täter seien ja schließlich AUCH Männer. Um sich die Infamie dieses Arguments klarzumachen, muss man nur probeweise statt "Frauen" den Begriff "Deutsche" einsetzen und statt "Männer" den Begriff "Ausländer". Es lautet dann: Durch Gewalttaten Verletzte aus fremden Ethnien sollen sich so lange nicht beklagen, wie Angehörige fremder Ethnien hierzulande überproportional viele Gewalttaten begehen. Dieses Argument steht mit beiden Beinen im rassistischen Sumpf. Es lastet dem EINZELNEN Opfer seine Zugehörigkeit zu einer biologischen oder ethnischen "Täterklasse" an. Es wird nicht besser, wenn man die Ethnie gleich ganz durch die Biologie ersetzt.

(...) Mit einem schönen Versprechen endete das besinnliche Stück: "Kommende Ausgabe dokumentieren wir alle Fälle der von Männern im Jahr 2018 getöteten Frauen." Unsere Vorfreude war groß. Leider jedoch enthüllt auch diese Dokumentation keine Tatzusammenhänge und Motive. Zum dritten Advent folgt, wenn wir Glück haben, die Dokumentation aller Fälle der getöteten Männer, und dann als finale Überraschung eine Analyse aller Fälle von Kindstötung.


Während sich die "Zeit" inzwischen auf dem Niveau einer reißerischen Boulevard-Zeitung verliert, gibt es kluge Analysen wie die von Thomas Fischer fast nur noch von Menschen außerhalb des journalistischen Berufsstandes. Was Bundesrichter Fischer hier darlegt, greift Argumentationen auf, die von Aktivisten der Männerrechtsbewegung seit Jahren vorgebracht werden.

Gestern kommentierte jemand zu der gängigen feministischen Berichterstattung über häusliche Gewalt, die männliche Opfer ausblendet, dass eine solche Feministin beim Blick auf die Opfer "zwischen Adel und Pöbel unterscheidet". Skandalös erscheint es ihr, wenn Angehörige des Adels getötet werden. Werden Mitglieder des Pöbels umgebracht, sind sie nicht der Rede wert – und schon gar keiner aufwändigen Recherche der "Zeit"



2. Ein Streitgespräch über Feminismus hat Wolfgang Kubicki (FDP) mit Katharina Schulze (Grüne) sowie der Moderatorin dieses Gesprächs Melanie Stein ("Stern") geführt. Wer konnte seine Position überzeugender präsentieren: Kubicki oder die beiden Damen? Das verraten die Kommentare unter einem vierzigminütigen Video des Gesprächs auf Youtube.



3. Der Offenbacher Kreistag lehnt mit großer Mehrheit einen Antrag der Alternativen Liste Offenbach-Land gegen "gendergerechtes Deutsch" mit Schreibweisen wie "Lehrer*innen" ab. Gegen die Forderung einer Rückkehr "zur Sprache Goethes und Schillers" argumentierten CDU und FDP für Gleichberechtigung und den Sprachwandel. Nur die Alternative Liste Offenbach-Land selbst stimmte für ihren Antrag; AfD und FL-NEV enthielten sich.



4.
Zehntausende von Teenagern und Männern aus der ehemaligen Sowjetunion wurden ab den 90er Jahren in israelische Operationssäle getrieben, um sich beschneiden zu lassen. Jahre später erinnern sie sich an die daraus resultierenden Traumata und Schmerzen sowie an die Schäden, die in ihrem Sexualleben entstanden sind.


Die israelische Oppositionszeitung "Haaretz" berichtet in einem mehr als ausführlichen Artikel. Ein Auszug:

Beeinträchtigt die Beschneidung grundsätzlich das sexuelle Vergnügen? Eine Reihe von Studien haben versucht, diese Frage mit kreativen Methoden zu beantworten. Aber in Israel gibt es eine besondere Situation, die es ermöglicht, das Thema direkt anzugehen: Viele Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion wurden hier nach Beginn ihrer sexuellen Aktivität beschnitten, so dass sie eine Vergleichsbasis haben.

In den letzten Monaten habe ich mit 50 Einwanderern gesprochen, die erst als Jugendliche oder Erwachsene beschnitten wurden, und von den Folgen dieses Verfahrens gehört. Siebzig Prozent von ihnen berichteten, dass ihr Genuss von sexuellen Beziehungen und Selbstbefriedigung beeinträchtigt wurde. Bei der Bewertung des Grades der Verringerung ihres Vergnügens sagten 22 Prozent, dass es einen signifikanten Rückgang gegeben hatte, 10 Prozent sagten, dass er von mittlerem Ausmaß war, und 38 Prozent charakterisierten ihn als nur einen geringfügigen Rückgang.

(...) Forscher in Dänemark haben 2011 untersucht, ob Frauen in sexuellen Beziehungen mit beschnittenen Männern anders reagieren. Die Antwort war kristallklar: Weibliche Partner von beschnittenen Männern berichteten über mehr Schwierigkeiten beim Erreichen des Orgasmus und über Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Antibeschneidungsaktivisten ("Intaktivisten", wie sie sich selbst nennen) glauben, dass diese Schlussfolgerung selbstverständlich ist, denn das dicke Sekret, genannt Smegma, das sich unter der Vorhaut ansammelt, erleichtert das Eindringen. Da bei beschnittenen Männern die Eichel breiter ist als der Schaft des Penis, sammelt sie bei jedem Zurückziehen des Penis einen Teil der Gleitmittel des weiblichen Partners. Je länger der Geschlechtsverkehr dauert, desto größer ist die unangenehme Reibung für die Frau.

(...) Viele derjenigen, die für diesen Artikel befragt wurden, sprachen von einem allmählichen Verlust ihrer Sensibilität. In einigen Fällen verursachte die Operation schwere, ja sogar kritische Schäden, sowohl am Sexualleben des Einzelnen als auch an seiner Fähigkeit, eine dauerhafte Beziehung aufzubauen. In anderen Fällen konvergierten die negativen Folgen der Beschneidung zu Enttäuschung und Frustration über die Erfahrungen bei der Integration in die israelische Gesellschaft.


(Nachtrag vom 8. Dezember: Siehe zu einem Faktenfehler in diesem Artikel hier den zweiten Leserbrief.)

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