«Künstlicher E-Auto-Lärm grenzt an Perversion»

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Widerstand«Künstlicher E-Auto-Lärm grenzt an Perversion»

Elektroautos müssen lauter werden – aus Sicherheitsgründen. Verkehrspolitiker finden das paradox und intervenieren.

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So können Elektro-Autos künftig bis 20 km/h tönen.

Für Fussgänger können E-Autos gefährlich sein: Weil man die leisen Flitzer kaum hört, ist das Unfallrisiko hoch. Darum müssen Elektro- und Hybridautos jetzt lauter werden. Dank künstlichen Fahrgeräuschen (wie diese tönen können, hören Sie im Video), sollen Fussgänger und Velofahrer die leisen Autos besser wahrnehmen. Für diese Warngeräusche, die neu beim Rückwärtsfahren und bis 20 km/h vorwärts ertönen müssen, gibt es genaue Vorgaben (siehe Box). Bereits ab 1. Juli ist für alle neuen Elektro- und Hybrid-Modelle das sogenannte Acoustic Vehicle Alerting System (Avas) Pflicht. Die europaweite Neuerung gilt auch für die Schweiz.

Für CVP-Ständerat Konrad Graber ist sie absurd: «Dass E-Autos künstlich Lärm erzeugen müssen, geht mir gegen den Strich. Ihr grosser Vorteil wird so zunichte gemacht.» Gerade in Wohnquartieren werde oft viel Geld für Lärmschutzmassnahmen ausgegeben. Und Tausende Menschen litten unter schädlichem Strassenlärm. «Es grenzt an Perversion, gerade an diesen Orten und diesen Leuten jetzt auch noch künstlichen Lärm zuzumuten», sagt Graber. Der Verkehrspolitiker hat darum Mitte März eine Interpellation eingereicht. Er will vom Bundesrat wissen, ob diese «Lärmpflicht» für E-Autos nicht paradox sei und ob es tatsächlich mehr Unfälle zwischen Fussgängern und E-Autos gebe.

Mehr Unfälle mit E-Fahrzeugen

Laut der US-Verkehrsbehörde NHTSA sind E-Fahrzeuge zu 37 Prozent häufiger in Unfälle mit Fussgängern verwickelt als herkömmliche Autos. In der Schweiz gibt es laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) aber noch keine detaillierten Zahlen. Die Unfälle mit Elektro- und Hybridautos stiegen zwar in den letzten Jahren – aber parallel zu deren Verkäufen. «Dass von geräuscharmen Autos ein höheres Unfallrisiko ausgeht, ist zwar naheliegend, aber nicht bewiesen», sagt BfU-Sprecher Marc Kipfer. 2017 waren 321 Elektro- und Hybridautos in Unfälle verwickelt. «Ob dabei das fehlende Geräusch ein Grund für den Unfall war, ist indes nicht bekannt», erklärt Kipfer.

Deshalb fragt sich Graber: «Führt man jetzt einfach etwas ein, was es gar nicht braucht?» Er fährt selbst ein E-Auto und fordert ein Umdenken: «Gegenseitiger Respekt ist die Lösung. Fussgänger müssen lernen, dass es lautlose Fahrzeuge gibt. Deren Lenker müssen so verantwortlich fahren, dass sie niemanden gefährden.» Unterstützung erhält er von ACS-Präsident und SVP-Nationalrat Thomas Hurter. Er sei nicht begeistert von der Neuerung. Schliesslich betreffe Verkehrssicherheit Autofahrer wie Fussgänger – beide müssten sensibilisiert werden. «Es kann nicht sein, dass die Leute immer mehr am Handy sind oder Kopfhörer im Ohr haben und einfach über die Strasse gehen. Wir müssen unser Verhalten ändern.»

Blindenverbände erleichtert

Dass E-Autos umgerüstet werden, ist auch ein Erfolg für die europäischen Blindenverbände. Sie hatten laut Spiegel.de entsprechend Druck auf die Politik ausgeübt. Auch für den Schweizer Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) ist die Neuerung eine grosse Erleichterung. «Für uns ist die Einführung dieses Systems lebenswichtig», sagt Joel Favre vom SVB gegenüber der «NZZ am Sonntag». Laut ihm verursachen geräuschlose Autos überdurchschnittlich viele Unfälle. «Sie sind ein Sicherheitsrisiko – nicht nur für Sehbehinderte, auch für Kinder und ältere Menschen», sagt Favre.

Für den SBV geht die Neuerung gar noch zu wenig weit. Zusätzlich zu den EU-Vorschriften sollten die E-Autos auch Fahrgeräusche von sich geben, wenn sie beispielsweise an einer Kreuzung stehen. Eine Verschärfung oder Abschwächung der «Lärmpflicht für E-Autos» wäre laut dem Bundesamt für Strassen (Astra) für die Schweiz aber äusserst schwierig. «Solch technische Ausrüstungen an Fahrzeugen werden aufgrund von bilateralen Abkommen mit der EU übernommen», sagt Astra-Sprecher Guido Bielmann.

So klingen neue E-Autos

Für die akustische Warneinrichtung Avas gibt es laut dem Bundesamt für Strassen (Astra) genaue Vorgaben: Sie muss einen motorenähnlichen Fahrton erzeugen, beim Beschleunigen soll sich die Tonlage von einer tiefen zu einer höheren Frequenz verändern. Der Fahrton kann allerdings je nach Hersteller etwas variieren. Oft klingt er futuristisch (siehe Video). Das Warngeräusch muss zwischen 55 und 75 Dezibel laut sein, vergleichbar mit einem Mofa. «Es ist aber leiser als bei einem Benzin- oder Dieselmotor», sagt Astra-Sprecher Guido Bielmann. Zudem muss das künstliche Fahrgeräusch zwingend beim Rückwärtsfahren und vorwärts bis 20 km/h ertönen. «Bei höheren Tempi hört man – wie bei allen anderen Autos auch – vorwiegend nur noch das Reifengeräusch», erklärt Bielmann. Vorgeschrieben sind mindestens zwei Terzbänder, eines davon mit weniger als 1600 Hertz, damit auch Senioren mit schlechtem Gehör frühzeitig auf das sich nähernde Fahrzeug aufmerksam werden.

Diese Fahrzeuge brauchen Avas

Ab 1. Juli müssen alle neuen Modelle von Elektrofahrzeugen mit dem Acoustic Vehicle Alerting System (Avas) ausgerüstet sein. Das gilt auch für Brennstoffzellenfahrzeuge und Hybridautos mit Verbrennungs- und Elektromotor. Ab Mitte 2021 dürfen auch ältere Modelle nur noch mit Avas verkauft werden. Bereits im Verkehr stehende Modelle müssen aber nicht nachgerüstet werden. Einige Elektro- und Hybrid-Fahrzeuge fahren bereits mit einer Art Avas herum. Der Ton ist jedoch noch abschaltbar.

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