Depersonalisation – keine alltägliche Begegnung mit mir selbst

Mittlerweile ist es schon über ein halbes Jahr her, dass ich hier zuletzt einen Beitrag bloggte. Das heißt allerdings nicht, dass es mir irgendwie geht; jedenfalls ist es nach wie vor selten, dass es mir auf mich bezogen irgendwie bemerkenswert ginge. Es wurden auch einige elende Dinge in den Medien berichtet, die mich angingen, so etwa die im April skandalisierte öffentliche Übergriffigkeit des Dalai Lama gegenüber einem Jungen, der seinen Segen erbat, zu denen ich etwas schreiben wollte, doch mir fehlte dazu der Eifer. Vielleicht später einmal. Derweil widerfuhr mir vor sechs Wochen ein Geschehen, das mich einmal mehr irritiert auf meine nachhaltige, seit meiner Kindheit währende Depersonalisationsstörung zurückwarf.

Anlass war einer jener Filme, die einen zu Tränen rühren können. Dieser Tage vermochte das mit mir der dänische Film „A Beautiful Life“ mit Christopher. Mir schoss direkt das Wasser aus den Augen, dabei sah ich mir zeitgleich verwundert zu, denn ich konnte nicht erfassen, was mich da anrührte und was der Film womöglich in mir anstieß. Jedenfalls war es nicht die Story, die da erzählt wurde, sie war eingängig, etwas Liebe, etwas Erfolg und dazu das übliche überwinden von Hindernissen bis zum letztlich guten Ende. Wahrscheinlich haben da zwei Temperamente in mir den Film gesehen: eines unterhielt sich mit dem Film, während das andere der Rührseligkeit anheim fiel. Doch ich brachte sie nicht zusammen, und so blieb mir meine Stimmungslage rätselhaft. Mit mir selbst hatte sie jedoch recht wenig zu tun.

Wie sehr die Selbstentfremdung in mir wirkt, erlebe ich immer wieder in der Traumatherapie, in der mein erstes Therapieziel, dass ich einst 2011 zu Beginn benannte lautete: „Ich möchte komplett werden.“ Seitdem wurde mir zwar das Manko, nicht anwesend zu sein, mein Leben als ein an mir Unbeteiligter zu fristen, wiederholt schmerzlich bewusst, doch das Gefühl von Integration, Zusammenheilen oder Selbstwerdung geschweige denn Selbstsein stellte sich nicht ein. Eine weitere Irritation ist zudem, dass ich mich in den Augen meiner Mitwelt durchaus als eine beachtenswerte, gestandene Persönlichkeit erlebe; doch für mich selbst stellt sich dieses Empfinden nicht ein. Die Wahrnehmung bleibt ohne Bezug zu mir. Ich bleibe mir fern und fremd.

An sich wäre diese fehlende Selbstwahrnehmung meinerselbst durch Meinerselbst kein berichtenswerter Umstand, wäre da nicht zu Beginn der Woche während der Therapiestunde etwas mit mir geschehen, das mich erstmals einen Hauch von persönlicher Ganzwerdung erleben ließ. Ja, ich meine, für einen kleinen situativen Moment, war ich komplett. Nachstehend die Zeilen aus meinem Traumtherapietagebuch über den Augenblick in dem es „mir“ irgendwie mehr als ging.

10. Juli 2023

Endlich wieder Präsenztherapie. Ich finde mich nicht richtig ein; erinnere mich an das Fläschchen Tinte, aus dem wir einst zu Beginn einer Stunde ein Eröffnungsritual machten, indem ich einen Tintentropfen mir der Pipette in ein Glas Wasser fallen ließ, um über die wogenden Schleier ins Gespräch zu kommen. Schließlich berichte ich von der Herfahrt, bei der ich im vollen Zug von verschiedenen Schweißnoten umweht wurde und letztlich hinter Geltendorf die Maske aufsetzte, um wenigstens einen schwachen Geruchsfilter zu haben. Dazu erwähne ich nebenbei, dass ich in letzter Zeit zunehmend besser schmecke und rieche, dass sich meine Sinne hierfür verfeinerten. M.R. notiert das sofort ebenso eifrig wie die Woche zuvor die Psychiaterin.

Es erheiterte sie, als ich diesen Umstand erwähnte. Gleichzeitig meinte sie, dass riechen und schmecken etwas ureigenes seien, und wenn ich es bemerke, wie sich die Sinne verfeinerten, das zugleich eine Wahrnehmung meiner Meinhaftigkeit sei. Es sei eine Äußerung meines gesuchten Selbst, ein Schritt zur Komplettierung meinerselbst. – Ich sitze da und staune. Dieser simple Umstand hört sich für mich an wie eine Offenbarung. Es rührt sich echte Freude in mir. Mit diesem Mal war ich mir auf der Suche nach mir selbst erkennbar näher gerückt. Doch im nächsten Moment beschreibe ich mein Glück, als geschähe es einem anderen, wieder in der dritten Person, und erzähle, wie „Er“ sich dabei fühlt. Doch wiederum beinahe im gleichen Moment bemerke ich, was da geschieht, wie ich mich für meine Freude schäme und mir selbst entrücke. Inneres Glück soll mir hierdurch ‑ so die Konditionierung ‑ besser verwehrt bleiben, denn man wird es mir wieder nehmen; so wie man es mir von Kindesbeinen antat. Wieder sitze ich staunend da. Zwei Schlüsselmomente in einem. Sollte sich meine Ahnung bestätigen, dass es möglich ist, komplett zu werden, zu mir zu kommen; eine Person zu werden; „per sonare“ die Einheit sein, die aus mir durch die Menschenmaske klingt? – Ich wechsle in meiner Beschreibung bewusst zum Ich, auch wenn ich dabei eine Schwelle überwinden muss, eine Schwelle, die mich bislang im behagten Gewohnten, dem Abstand zu Meinerselbst, zu mir selbst, beließ.

Jedenfalls scheint es zu ihr, obwohl Depersonalisation eine der ältesten – seit dem 18. Jahrhundert beobachteten seelischen Störungen ist und etwa jeder zweite depersonalisierte Erfahrungen in seinem Leben macht, so gut wie keine therapeutischen Skills zu geben, um eine Person in sich wieder komplett zu integrieren. Dr. R., die Psychiaterin, wusste keine, auch M.R. weiß keine, gleichwohl hatte ich bei ihr schon einige heilsame Momente erfahren. Es gibt auch kaum Literatur zum Thema. Die vorhandene ist zudem wenig aufschlussreich. In ihr wird häufig von Angst berichtet, der Patienten mit einer Depersonalisationsstörung unterworfen sind. Dieser Umstand war ja ein Schlüsselmoment, als ich dazu anfänglich meinte, ich litte an keinen Phobien; doch bei ehrlicher Betrachtung meiner gepflegten Vermeidungshaltungen wurde schnell deutlich, dass in mir viel Angst herrschen muss. Angst als weites tiefes Maar, dunkel und kalt, an dessem Rand ich stehe und es nicht erkenne. Es erscheint mir allenfalls als ein netter Spiegel der idyllischen Umgebung. Pustekuchen … Gemessen an den Fortschritten danach, war zumindest dieser Ansatz vor wenigen Monaten ein erster zögerlicher Schritt zu mir.

Nun also, soll ich einmal mehr meiner Angst in dieser Stunde nachspüren. Ich beginne unwillig, weil ich zu oft dabei ins Leere gestolpert war. So auch diesmal, ich kann mich nicht hineinfinden. Schließlich habe ich ja diesmal noch gar keine Angst … oder doch? So wende ich mich erneut den Gerüchen zu und da rieche ich auf einmal was nicht da ist, aber was einst da war, den widerlichen Muttergeruch, diese schreckliche Ambivalenz zwischen mütterlicher Wärme, Geilheit und Missbrauch in einer Duftnote.

Ich erinnere mich wieder an die Verlassenheit im Waisenhaus und daheim. An das kleine Holzkasterl, in dem ich im Waisenhaus meine wenigen Habseligkeiten verwahrte. Wieder aus dem Waisenhaus heraus, daheim, hatte ich nicht mal mehr ein Holzkasterl. Das Zimmer in dem ich mit meiner Schwester hauste war das Esszimmer. So hieß es auch im Umgang mit den Eltern. Ein Wahn des Vaters mit dem er seinen längst versoffenen großbürgerlichen Lebensstil prolongierte. Zeitweise wohnten gar wir vier Kinder darin. Jede Nacht mussten wir „das Esszimmer“ umräumen, um die Feldbetten aufzustellen, auf deren harter Bespannung wir schliefen; Hauptsache die Eltern hatten weiche Betten und zu saufen und zu rauchen. Später dann, nach dem Umzug in eine größere Wohnung in ein Dorf vor der Stadt hauste ich wieder im Esszimmer. In ihm stand ein Sekretär, der als Glas- und Geschirrschrank herhielt. Die kleine Schreiblade war, neben den Servietten, die darin lagerten, mein eigen. Der Sekretär war zweiteilig. Eine Kommode und ein Aufsatz. Zwischen Aufsatz und Kommode war ein kleiner Spalt. In ihn schob ich meine Zeichnungen und geheimen Aufzeichnungen, um sie – mein Ureigenes ‑ zu verstecken.

Einmal zeichnete ich – animiert durch einen Besuch von Janosch – ein Kinderbuch. Ich fand es selbst so gut, dass ich mich damit der Mutter anvertraute. Auch sie fand es gut, was ihr Bübchen – so wurde ich gerufen – da fabriziert hatte. Ein paar Tage später, die Eltern betranken sich, kam sie trunken ins Esszimmer, meinem Aufenthaltsraum, und erbat sich die Zeichnungen. Sie wollte sie dem Vater zeigen, was er dazu meine. Der Vater äußerte sich mit gemeinen Worten abfällig dazu; ich konnte sie durch die halboffene Türe hören. Neben seiner Sonne, durfte es keine weitere Sonne geben, sagte ich zu M.R., was sie ihrerseits wiederum notierte.

Die Mutter gab mir anderntags meine Zeichnungen zurück. Ich schob sie nicht mehr in ihr Versteck zurück, sondern zerriss sie. M.R. war von diesem Bericht und dem Umstand, dass ein Schlitz zwischen zwei Möbelstücken mein einziger privater Raum war, zu Tränen gerührt, auch mir war dabei zum heulen zumute. Ich hatte nasse Augen. Ja, ich empfand das ganze damals schon als Verrat. Nach der Stunde fiel mir dazu ein, wie mir die Schwester mal erzählte, dass der Vater meine professionellen Illustrationen gegenüber anderen lobte und meine Begabung hervorhob. Mir gegenüber hatte er dazu jedoch nie ein Wort verloren und seinen Stolz auf mich verborgen. M.R. fragte mich, wie es mir ginge. Ich wusste es nicht zusagen, denn ich enteilte mir bereits, der Seelenschmerz war zu groß geworden.

Ich komme zur Ruhe, etwas zu mir, und lege meine rechte Hand auf die Stirn und die linke in den Nacken und versuche, dem Gefühl nachzuspüren, der verratene Bub zu sein. Ich orte mich; spüre meine Hände, an Stirn und Nacken, meine Füße auf dem kühlen Boden; bemerke den roten Schein, der aufgrund des Tageslichts durch meine geschlossenen Lider dringt. Dem Gefühl dazu vermag ich nicht nachzuspüren. Stattdessen erlebe ich mich in einem vielfältig rot schattierten Raum, in dem sich die Farben mählich bewegen, so wie sich auch der Raum selbst bewegt. Die Bewegung ist mir eigen, ebenso wie dieser Raum. Er ist nahe bei mir … ich bin in ihm … könnte gar selbst der Raum sein. Doch das wäre zuviel nachgedacht. Ich denke nicht nach, sondern beobachte. Der Raum beobachtet sich selbst, nimmt sich selbst wahr. Ich ahne den verratenen Buben, ein Wischer in der roten Bewegung. „Es ist ein starker Bub“, sage ich voll Stolz über ihn, über mich, der das alles überlebt hatte. Dieses Empfinden und gleichzeitige Mitempfinden mit mir selbst ist eine zarte Form der Selbstentdeckung. Ja, es ist Zärtlichkeit zu mir selbst. – Ja, ich denke, bei dieser Besinnung in hochrot, rückte ich mir wieder ein wenig näher. Auch M.R. teilte mir das als ihren Eindruck mit.

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