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Geschichte Schlimme Lektüre

Als die Lesesucht die Menschen krank machte

Wie sich die Bilder gleichen: Mit seinem Gemälde „Die Lektüre“ (l.) thematisierte Pierre Antoine Baudouine um 1760 die „Leselust“, die sich heute auf den Computer ausgedehnt hat Wie sich die Bilder gleichen: Mit seinem Gemälde „Die Lektüre“ (l.) thematisierte Pierre Antoine Baudouine um 1760 die „Leselust“, die sich heute auf den Computer ausgedehnt hat
Wie sich die Bilder gleichen: Mit seinem Gemälde „Die Lektüre“ (l.) thematisierte Pierre Antoine Baudouine um 1760 die „Leselust“, die sich heute auf den Computer ausgedehnt hat
Quelle: wikipedia/pa/chromorange
Kulturpessimisten warnen vor der Internetsucht. Ein ähnliches Suchtpotenzial wurde im 18. Jahrhundert bei einem anderen Medium ausgemacht. „Romanleserey“ wirke „auf die Geschlechtstheile“, hieß es.

Auf den ersten Blick wirkt das Bild harmlos, wenigstens für uns heutige Betrachter. Das Gemälde "Die Lektüre", 1760 vom französischen Maler Pierre Antoine Baudouin auf die Leinwand gebracht, zeigt eine recht private Szene aus dem Leben einer anonymen Leserin. Sie liegt wie dahingegossen auf einer Chaiselongue, versunken in sich, ein Kissen und ihre schweren Kleider.

Ihr Blick geht ins Nirgendwo, ihre linke Hand ist mitsamt einem Buch auf ein Tischchen herabgesunken, unter dem entrückt ein Schoßhund kauert. Mit letzter Kraft scheint ihr Finger das Buch an einer bestimmten Stelle offen zu halten. Sie schläft ein, sagt uns der erste Blick, die Lektüre hat sie in wohligen Dämmerzustand versetzt. Der Schein trügt.

Sieht man genauer hin, stellt man ein für damalige Sitten und Gebräuche fast skandalöses Chaos im Gemach fest. Wild türmen sich auf dem Schreibtisch zur Rechten der Dame Folianten und allerlei Blätter, die, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, sich kaum noch auf ihm halten können.

Der im Hintergrund aufgestellte Paravent und der zugezogene Vorhang verraten uns, dass unsere Dame fest damit rechnet, ganz allein mit sich zu sein. Und wenn man das weit aufgeknöpfte Mieder und ihre unter den Rock geglittene rechte Hand betrachtet, bekommt man eine Ahnung, warum das so sein könnte.

"Geschmack- und gedankenlose Lektüre"

Es bleibt offen, ob Baudouin, übrigens der Lieblingsmaler der Marquise von Pompadour, mit seinem Bild tatsächlich so etwas wie die Kritik am weiblichen Leseverhalten verewigen wollte. Eher schon spielt er mit den Vorurteilen seiner Betrachter, denen die Vorbehalte gegenüber der ins Buch vertieften Frau sehr geläufig waren. Denn die um 1800 mit steigender Buchproduktion aufblühende "Romanleserey" rief allenthalben Kulturpessimisten auf den Plan, die in der zunehmenden (und unaufhaltsamen) Literarisierung der Öffentlichkeit einen Verfall der guten Sitten erkennen wollten.

Johann Adam Bergk etwa, Privatgelehrter, Übersetzer und kantianischer Philosoph, lieferte 1799 das Leitmotiv aller Kassandrarufe: Aus "geschmack- und gedankenloser Lektüre" folge "unsinnige Verschwendung, unüberwindliche Scheu vor jeder Anstrengung, grenzenloser Hang zum Luxus, Unterdrückung der Stimme des Gewissens, Lebensüberdruss und ein früher Tod", rief er aus Leipzig herüber.

Noch präziser fasste der Pädagoge Karl G. Bauer die verderblichen Konsequenzen des Buchgenusses: "Der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen führt zu Schlaffheit, Verschleimungen, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, die bekanntermaaßen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt." Der Leser als halb narkotisierter Onanist: Man möchte eher kein Buch zur Hand nehmen bei solchen Risiken und Nebenwirkungen.

Wofür soll das bitte gut sein?

Wenn die Menschen es mit etwas Neuem zu tun bekommen, werden seit Jahrhunderten in stupider Reihenfolge dieselben Abwehrmechanismen aktiv. Das gilt vor allem für neue Medien – ob es nun das Radio ist oder das Fernsehen, der Ton- oder der Farbfilm oder eben das Internet. Kathrin Passig hat sie einmal in einem schönen Aufsatz für den "Merkur" gesammelt. Sie lassen sich genauso auf die damalige Situation übertragen wie auf unseren heutigen, oft tonnenschwer mit Sorgen befrachteten Blick aufs Internet. In einzelne Sätze gefasst, verläuft das Reaktionsschema nach Passig etwa so (wobei die Einsicht, dass die Innovation nicht mehr weichen wird, von Punkt zu Punkt steigt):

1. Wofür soll das bitte gut sein?

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2. Das braucht doch kein Mensch.

3. Die Einzigen, die das wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten.

4. Das ist ja nur eine Modeerscheinung.

5. Die Innovation verändert überhaupt nichts.

6. Die Neuerung ist zwar ganz gut, aber nicht gut genug.

7. Sie stürzt schwache Charaktere ins Verderben.

Spiegelung der Lesekritik

Passig führt noch zwei weitere Stufen der Kritik am Neuen an, entscheidend ist hier aber der zuletzt genannte Punkt. Auf eine Phase aggressiver Abwehr des Neuen folgt der Moment, in dem nicht mehr zu leugnen ist, dass es sich etablieren wird. Dann kommt die Warnung vor seinen angeblichen Gefahren. "Computer für Kinder – das macht Apfelmus aus den Gehirnen", warnte Computerpionier Joseph Weizenbaum noch im Jahr 2005 (!), und die heute von Manfred Spitzer und anderen vorgetragene Warnung vor den Suchteffekten permanenter Online-Aktivität ist nichts als eine Spiegelung der Lesekritik um 1800.

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Der Begriff der "Lesesucht" wurde, welche Ironie, zuerst von den Aufklärern im Munde geführt. Einer seiner frühesten Belege stammt aus dem Jahr 1773, und schon 1809 nahm es der Aufklärer Joachim Heinrich Campe in sein Wörterbuch auf: "Lesesucht, die Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte und auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen." Das Lesen also als ein liederlicher Zeitfresser, der einen davon abhält, Nützliches zu tun: Wer möchte da nicht an die heutige Internetkritik denken?

In der Tat war die Kulturtechnik der Romanlektüre etwas so umwälzend Neues, dass sie vielfach zu Verunsicherungen führte und sicher geglaubte Ordnungen auf den Kopf stellte. Sie ist eng verbunden mit Veränderungen, die sich in dieser Zeit im Bürgertum vollzogen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein verstand man dort unter "Lesen" die wiederholte, oftmals laut deklamierende und intensive Lektüre meist religiöser Schriften, deren Gehalt man sich so gewissermaßen einverleiben wollte.

Romanleserey und Revolution

An seine Stelle trat in dieser Umbruchsphase nun, was der Historiker Rolf Engelsing das "extensive Lesen" nennt: der Hunger nach neuen Erzählstoffen, nach dem Versinken in fiktiven Welten, wie sie nur der Roman bietet. Der Durchbruch des Bildungsbürgertums, die neuen Chancen zum sozialen Aufstieg durch die Aneignung von Wissen leistete ein Übriges, um das öffentliche Bild des Lesers zu revolutionieren – der in sich gekehrte, manchmal versonnen in sich hineinlächelnde Mensch mit einem Buch in der Hand war aufgetaucht und wollte nicht mehr verschwinden.

Wie extrem man diesen Wandel empfand, zeigt eine Wortmeldung des Publizisten Johann Georg Heinzmann aus dem Jahr 1795. "So lange die Welt stehet", schrieb dieser, "sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserey, und in Frankreich die Revolution. Diese zwey Extreme sind ziemlich zugleich mit einander groß gewachsen, und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Romane wohl eben so viel im Geheimen Menschen und Familien unglücklich gemacht haben, als es die so schreckbare französische Revolution öffentlich tut."

Unglückliche Familien! Und wer war wohl schuld daran? Die Frauen natürlich, wer sonst? Ein Großteil der Lesekritik richtete sich mehr oder minder explizit gegen die lesende Frau. Sie galt als suspektes Wesen, das, statt sich redlich schaffend um seine Umwelt zu bemühen, ein Vollbad in verträumter Innerlichkeit nahm.

Selbstgenügsamkeit der lesenden Frau

Das schöne Buch mit dem zeitkritisch gemeinten Titel "Frauen, die lesen, sind gefährlich" von Stefan Bollmann (Sandmann Verlag) erzählt viel über diesen männlich geprägten Blick auf die weibliche Emanzipationsgeschichte und die Angst vor Kontrollverlust, die in ihm lag. Die Selbstgenügsamkeit der lesenden Frau, ihre Unabhängigkeit, ihr souveräner Zugang zur Bildung – wo sollte das denn hinführen?

"Ein Buch lesen, um bloß die Zeit zu tödten", schäumte Johann Adam Bergk im frühen 19. Jahrhundert, sei "Hochverrath an der Menschheit, weil man ein Mittel erniedrigt, das zur Erreichung höherer Zwecke bestimmt ist." Noch weiter ging Campe: Übermäßiges Lesen, schrieb dieser, rufe Gleichgültigkeit gegenüber allem hervor, was nicht mit dem Lesen zu tun habe. Man vernachlässige den Haushalt, kümmere sich nicht um die Kinder.

Campe war immerhin Hauslehrer der Humboldt-Brüder, Verleger und Erfinder der Massenproduktion von Büchern. Man werde furchtbar träge, assistierte der Philosoph Friedrich Eduard Beneke und halluzinierte frohgemut, das Gedächtnis gleiche dem Magen: Übermäßiges Lesen könne nicht mehr verdaut werden, ein überfülltes Gedächtnis führe ebenso zu Krankheiten wie ein chronisch überfüllter Bauch.

Das zügellose Lesen eindämmen

Bei aller Sorge um die Lesesüchtigen wurden dann doch bemerkenswert wenige Rezepte dagegen vorgeschlagen. Der schlichtweg reaktionären Empfehlung von Karl Philipp Moritz, doch zurückzukehren zum wiederholten Lesen der immer selben Schriften wie einst, hielt der Pädagoge Johann Bernhard Basedow seine immerhin konstruktivere Idee entgegen, eine Enzyklopädie für Leser einzuführen. So könne man das zügellose Lesen eindämmen.

Doch es war nicht die Lesekultur, die verschwand, es war das dünkelhafte Genörgle, mit dem man ihr begegnete. Man geht wohl nicht zu weit damit, der Kritik an unseren Netzgewohnheiten dasselbe Schicksal vorauszusagen.

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