"Ich zeichne, bis ich umfalle", hat Oscar Niemeyer in Interviews gern gesagt, und so mancher hat diesen Satz als Drohung verstanden. Die Bauwerke des brasilianischen Ausnahme-Architekten sind atemberaubende Baukunst, aber auch eine Herausforderung für Bauherren und Umgebung. Dass Architektur funktioniert, dass sie genutzt werden kann, war für Niemeyer immer zweitrangig – selbst bei Bürogebäuden und Schulen.

Natürlich war Niemeyer offen für Vorschläge. Als Auftraggeber des Museums für Zeitgenössische Kunst in der Bucht von Rio de Janeiro höflich fragten: "Oscar, es wird ein Museum. Wir wollen da drin Bilder aufhängen, verstehst Du? Kannst Du bitte nicht alle Wände rund machen?", da gab es dann hinterher die eine oder andere ebene Fläche, die der Bezeichnung praktisch zumindest nicht völlig widersprach. Von außen hingegen ist das erwähnte Museum einer fliegenden Untertasse nicht unähnlich: kreisrund, erst 20 Jahre alt und bereits legendär. Ebenso die Zentrale der Kommunistischen Partei in Paris.

Der Brasilianer wollte nicht nur bis zuletzt arbeiten, er konnte es auch. Die Nachfrage nach seinen Bauwerken riss nicht ab, erst 2011 wurde sein Kulturzentrum im spanischen Asturien eingeweiht. Das Ensemble bietet nicht die günstigsten Bedingungen für Bühnenbetrieb oder Kinoleinwände: Ein riesiger Kuppelbau in Form einer kopfstehenden Schüssel erhebt sich über einem kurvigen Plateau. Dieses ist mit einem zweiten Gebäude verbunden, das Niemeyer dem Kamm einer Welle nachempfand. Hinreißend ergonomisch – vollkommen unpraktisch. Nein, das Nützliche hatte Niemeyer nie wirklich im Blick.

Aber wie sollte er auch, bei dieser Aussicht? Aus seiner Büroetage, im Dachgeschoss eines Hochhauses an Rios Promenade, der Avenida Atlântica, blickte Niemeyer über die Strandsichel von Copacabana. Ein Panorama von vier Kilometern in Dünen gelegtem gelbem Sand, dahinter die blaue Weite des Ozeans, der unaufhörlich Wellen ans Ufer rauschen lässt. Wer denkt da an plane Flächen, rechte Winkel?

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Niemeyer hatte das auch nicht nötig. Er hatte Talent und knüpfte geschickt Kontakte. Seine Karriere begann früh. Nach dem Abschluss an der Kunsthochschule in Rio fing er mit 28 Jahren im Architekturbüro des Hochschuldirektors an. Von dort warb ihn Le Corbusier ab, gefeierter Avantgardist der europäischen Moderne, der Niemeyer zu seinem Assistenten machte.

Europäische Moderne: Bauhaus. Streng. Praktisch. Darauf bedacht, Universelles zu schaffen, Theorien abzuleiten, die es ermöglichen, Dinge in Serie zu fertigen. Für solche pragmatischen Prämissen interessierte sich Niemeyer kein Stück. Er genoss die Ästhetik des Augenblicks. Die Rundungen einer schönen Frau, der Berge, des Ozeans – ihnen wollte er mit seinen Entwürfen huldigen.

Seinem Förderer Le Corbusier schob er ein paar Korrekturen in der Planung unter – hier ein bisschen weicher, dort etwas mehr Luftigkeit. Deutete an, was er wenige Jahre später in eigenen Werken ausleben würde: eine tropische Moderne, eine mit Verve. Gebaut für den Augenblick, in dem man nach oben sieht und "aaah!" sagt, hingerissen vom Schwung der Kurven, von einer Leichtigkeit, die man Beton nie zugetraut hätte. Für dieses "Aaah!" reisen noch heute Unzählige in die staubtrockene Hochebene Brasiliens, wo es Hunderte Kilometer weit nichts gibt außer Steppe und einer einzigen Stadt. Es ist Niemeyers Stadt.

Brasília entstand in den 1950er Jahren. Brasilien war wirtschaftlich in Schwung gekommen, schien immer mehr dem zu entsprechen, was der Schriftsteller Stefan Zweig einige Jahre zuvor begeistert vorausgesagt hatte: Einem "Land der Zukunft". Da hatte Präsident Kubitschek eine ungeheuerliche Idee. "Oscar", sagte Brasiliens Staatschef zu Niemeyer, "Du hast vier Jahre Zeit. Bau mir eine neue Hauptstadt."

Von null auf 600.000 Einwohner und ein Regierungssitz in vier Jahren. Niemeyer baute. Das Kongressgebäude riesig und rund wie eine Salatschüssel, den Präsidentenpalast von schlanken Säulen gehalten, so schwungvoll gedreht, als flüsterten sie "Tanze Samba mit mir". Niemeyer hatte sich auch seinen Staat leicht gedacht, Monumente zum Mittanzen. 1987 erklärte die Unesco Brasília zum Weltkulturerbe der Menschheit. Mehr kann ein Architekt auf dieser Welt zu Lebzeiten nicht erreichen.

Und trotzdem hatte Niemeyer zeitlebens das Gefühl, mit diesem Projekt gescheitert zu sein. Gescheitert bei dem Versuch, soziale Gerechtigkeit mit Beton zu formen, eine Wohnstadt zu schaffen, die soziale Unterschiede verschwinden ließe, in der Minister neben ihren Putzhilfen wohnen, alle zu Wohlstand kommen. Das war Niemeyers Vision gewesen. Doch der überzeugte Kommunist musste zusehen, wie die Bauarbeiter, die vier Jahre lang geschuftet hatten, die Armen, die sich auf den Weg gemacht hatten, in der Hoffnung auf Brasiliens Zukunftstraum, wie sie alle am Ende in Pappverschlägen hausten, draußen vor der Stadt. Niemeyers Wohnblöcke konnten sich nur die Reichen leisten. In seine tanzenden Paläste zogen nach einem Militärputsch die Generäle ein, demütigten sein Land zwei Dekaden lang, bedrohten auch den Architekten. Seine Zeitschrift Módulo wurde verboten, sein Büro mehrmals durchsucht, bis er nach Europa ins Exil floh und feststellte: "Architektur verändert nichts."

Als Ikone der Baukunst sucht Brasília noch immer ihresgleichen. Und Niemeyers Kritiker haben sich aus dem Disput um die unpraktischen Rundungen zurückgezogen, indem sie nach und nach gestorben sind.

Unangreifbar – so schwebte der Architekt, nun alt geworden, ebenso frei in Zeit und Raum wie seine Bauten. Mit knapp 99 Jahren heiratete er zum zweiten Mal, machte seine Sekretärin Vera Lúcia, die viele Jahre rigide, aber erfolglos versucht hatte, ihn vor Journalisten abzuschirmen, zur Ehefrau. Die mäßig begeisterte Reaktion seiner Tochter und weiterer Verwandtschaft ließ ihn ebenso ungerührt wie die ärztlichen Appelle, er solle allmählich von der Gewohnheit Abstand nehmen, jeden morgen früh um neun im Büro zu erscheinen, um zu zeichnen. Ein Spaßbad für Potsdam zum Beispiel, entworfen 2005, das wegen kommunaler Streitigkeiten aber nie gebaut wurde.

Oscar Niemeyer focht so etwas nicht mehr an. "Wer sich für wichtig hält, ist ein Esel", sagte er gern. "Wir haben die Freunde, die Frauen, sind fröhlich. Aber wir wissen, das Leben dauert nur eine Minute."

Am 5. Dezember starb er in seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro. In zehn Tagen wäre er 105 Jahre alt geworden.