«Man sollte nie anfangen, Schlafmittel zu nehmen»

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Medikamentensucht«Man sollte nie anfangen, Schlafmittel zu nehmen»

Bei Medikamentensucht wird in der Regel weggeschaut. Dabei gibt es Hinweise, dass der Missbrauch zunimmt.

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Meist vom Arzt verschrieben, gelten Medikamente als Heilsbringer. Dass sie immer wieder in Sucht und Abhängigkeit führen, wird gern verschwiegen. Doch nun schlagen Fachleute Alarm.

«Es ist ein Problem, bei dem man nicht hinsehen will», sagt Sprecher Markus Meury von Sucht Schweiz. Im Suchtpanorama 2017 kommt Sucht Schweiz zum Schluss, dass der Missbrauch von Medikamenten immer noch «ein weisser Fleck in der Präventionslandschaft» ist. Meury nennt drei Medikamentengruppen, die missbraucht werden: «Schlaf- und Beruhigungsmittel, Schmerzmittel und Psychostimulanzien.»

Verdoppelung der Unfälle unter Medikamenteneinfluss

Bei Sucht Schweiz verfolgt man das Thema aufmerksam. «Wir schauen genau hin, denn es gibt neuerdings Anzeichen, dass der Missbrauch zum Beispiel bei den Schmerzmittlen zunehmen könnte», sagt Meury. Darum sei das Thema Medikamentensucht dieses Jahr auch neu ins Suchtpanorama aufgenommen worden.

Besorgniserregend ist für Meury zudem die Zahl der Verkehrsunfälle unter Einfluss von Medikamenten. Diese hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt.

Mit Schlafmitteln solle man gar nie anfangen

Domenic Schnoz von der Zürcher Fachstelle zur Prävention des Alkohol- und Medikamentenmissbrauchs (Züfam) redet von einem «unterschätzten Problem». Weil man die Medikamente vom Arzt erhalte, sei den Leuten oft nicht bewusst, wie gefährlich sie seien. Laut Schnoz gibt es verschiedene Arzneitypen, die missbräuchlich genutzt würden. «Dies sind vor allem Schmerzmittel, Anabolika und Potenzmittel.»

Der problematischste Medikamententyp seien aber die Schlaf- und Beruhigungsmittel, die sogenannten Benzodiazepine. Schnoz betont: «Die Medikamente sind sehr nützlich bei akuten Krisen oder in traumatischen Situationen.» Ansonsten solle man am besten gar nie damit anfangen. Denn: «Wer einmal Benzos zum Schlafen nimmt, will nichts anderes mehr.»

Persönlichkeit kann sich verändern

Er rät Personen mit Schlafproblemen darum, mit fachlicher Hilfe einen anderen Weg zu suchen. «Da gibt es viele Angebote wie eine Schlafklinik oder eine Schlafsprechstunde, die muss man in Anspruch nehmen.» Im Verlauf der Zeit verändere sich auch das eigene Schlafbedürfnis. Auch dem solle man Rechnung tragen und sich damit arrangieren.

Neben der Sucht seien auch die Nebenwirkungen des Medikaments besorgniserregend. «Benzodiazepine haben Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten und das Gleichgewichtsgefühl.» Besonders Angehörige von Personen mit übertriebenem Schlafmittelkonsum würden berichten, dass sich deren Persönlichkeit verändere.

Schwindel und Konzentrationsstörungen

Katrin Liebisch, Oberärztin Psychiatrie an den Arud-Zentren für Suchtmedizin, bestätigt, dass Personen mit hohem Schlafmittelkonsum an Schwindel und Konzentrationsstörungen leiden können. Sie betont aber, dass die Benzodiazepine auch gute Notfallmedikamente sind, die in einem therapeutischen Setting wichtige Hilfe leisten können.

Medikamentensucht bei jungen Menschen

Rund jeder Zehnte der mehr als 5000 20-jährigen Männer, die in der Rekrutenstudie C-Surf 2014 befragt wurde, hat in den zwölf Monaten vor der Befragung zu verschreibungspflichtigen Medikamenten gegriffen, ohne dass eine medizinische Indikation vorlag. Damit belegt der Missbrauch von Medikamenten in dieser befragten Altersgruppe im Vergleich mit illegalen Substanzen nach Cannabis den zweiten Platz noch vor Ecstasy und Kokain. Mit 6,5% wurde dabei am meisten zu Schmerzmitteln auf Opioid-Basis gegriffen (Codein, Opiate, Buprenorphin), gefolgt von rund 3% Schlaf- und Beruhigungsmitteln (u. a. Benzodiazepine), 2,6% Angsthemmern und knapp 2% aufputschenden Medikamenten (Stimulanzien).

(Quelle: Sucht Schweiz)

Zahlen zur Medikamentensucht

Der Blick ins Suchtmonitoring Schweiz zeigt, dass am häufigsten Schlaf- und Beruhigungsmittel konsumiert werden. 2015 gaben 6,3 Prozent der befragten Personen ab 15 Jahren an, in den letzten 30 Tagen ein solches Medikament eingenommen zu haben. 2,3 Prozent der Schweizer Bevölkerung zeigen ein problematisches Einnahmeverhalten.

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