«Wir Flüchtlinge sind auch kluge Köpfe»

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Flüchtlinge mit Hochschulabschluss«Wir Flüchtlinge sind auch kluge Köpfe»

Ferhad Mussa hat einen Masterabschluss in Biomedizin-Technik. Dennoch findet er in der Schweiz keine Festanstellung.

Silvana Schreier
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Silvana Schreier

John Lennon wurde als Fünfjähriger in der Schule gefragt: «Was willst du werden, wenn du gross bist?» Er antwortete: «Glücklich.» Als alle meinten, er hätte die Frage nicht verstanden, sagte er ihnen, sie hätten das Leben nicht verstanden. Wird Ferhad Mussa gefragt, was er sich für die Zukunft wünsche, sagt er: «Dass ich glücklich bin.»

Sein Glück verlor er vor fünf Jahren. Als seine Heimatstadt Aleppo, im Norden Syriens, im Bombenregen zu Staub zu zerfallen schien. Und: «Es ist schwierig, glücklich zu sein, wenn man so viel denkt.» Nachdenken über die siebenmonatige Flucht, über die Familie zu Hause, über die Zukunft in der Schweiz. Besonders die Zukunft bereitet dem 29-jährigen Ingenieur für Biomedizintechnik Kopfzerbrechen: «Ich will nicht umsonst studiert haben.»

«Wir sind auch kluge Köpfe»

Nach einem dreimonatigen Praktikum an der Universität Bern am ARTORG Center for Biomedical Engineering Research arbeitete er bis Ende Oktober als Praktikant im Bereich Business Development Engineer bei Maritime Aerospace, einem Dienstleistungs- und Handelsunternehmen in der Luftfahrt. Seitdem ist er wieder auf Jobsuche. Während eines Bewerbungsgesprächs für ein weiteres Praktikum wurde ihm gesagt, er sei doch völlig überqualifiziert. «Ich weiss», antwortet Mussa. «Aber was soll ich tun? Für eine Festanstellung fehlt mir die Berufserfahrung.»

Überqualifiziert für ein Praktikum, zu wenig erfahren für eine feste Stelle: Wie er dieses Dilemma lösen soll, weiss Mussa nicht. Unterstützung von offizieller Seite erhalte er kaum: «Ich weiss nicht einmal, wohin ich mich mit meinem Problem wenden soll.» Der Schweiz fehle ein gut durchdachtes und funktionierendes Integrationsprogramm – «etwa eine Kooperation zwischen Migrationsamt und grossen Firmen». Man übersehe, dass Flüchtlinge auch für etwas qualifiziert sind. Mussa: «Wir sind auch kluge Köpfe.»

«Ich will Schweizerdeutsch lernen»

Gewissenhaft und ehrgeizig wie er ist, lernte Mussa innert sieben Monaten Deutsch. Sprachniveau B2 habe er erreicht. Das entspricht der oberen Mittelstufe. «Sie sagten mir: ‹Das reicht.›» Dabei wollte er mehr. «Ich bekam aber nur 400 Lektionen bezahlt», sagt Mussa. Seine nächste sprachliche Herausforderung hat er schon gefunden: «Ich will Schweizerdeutsch lernen.» Das gehört für ihn zu einer guten Integration – ebenso das Wissen über die Schweizer Kultur und das hier herrschende Gesetz. Perfekt integriert sei er daher noch nicht, «ich bin auf dem Weg».

«In Syrien gibt es ein Sprichwort, das lautet: ‹Lebst du 40 Tage in einem Land, dann ist es wie deine Heimat.›» Die perfekte Integration, das ist Ferhad Mussas Ziel. Jetzt hat er die Aufenthaltsbewilligung B. Er darf bleiben.

Dem studierten Ingenieur mit Schwerpunkt Biomedizin-Technik ist Integration wichtig. Aber: «Integration heisst nicht, dass ich mich als Schweizer verkleide. Sondern, dass ich Sprache, Kultur und Gesetz kennenlerne und respektiere, während ich meine Kultur im Herzen und im Kopf behalte.»

«Ich habe nicht studiert, um zu kämpfen»

Als jüngstes von vier Kindern habe Mussa in Aleppo eine «gewöhnliche Kindheit» erlebt. So sieht er es im Rückblick. Die Familie gehörte zur Mittelschicht, der Vater war Sekundarlehrer für Mathematik, Chemie und Physik, die Mutter Primarlehrerin. Mussa studierte an der Universität Aleppo Ingenieurwesen und Elektronik im Bachelor, dann folgte das Masterstudium in Biomedizintechnik. Sieben Jahre verbrachte er an der Uni.

Sein Studium beendete Mussa mitten im Krieg. Seine Familie verliess 2012 die Grossstadt – das Leben dort wurde zu gefährlich. Ferhad Mussa folgte ihnen Ende 2013. Ein paar Monate lang unterrichtete er an der Sekundarschule eines Dorfs in Afrin im Norden Syriens. Doch die Lage wurde unerträglich: «Die Regierung und die Opposition wollen die jungen Männer für den Krieg.» Unvorstellbar für Mussa. «Ich will nicht kämpfen», sagt er. Dafür habe er nicht studiert.

«Ich suchte ein Land, das Menschenrechte respektiert»

Der einzige Ausweg war die Flucht nach Europa. Darüber spricht Ferhad Mussa nicht gern. Wann immer er es dennoch tut, weicht sein Lächeln einem nachdenklichen, meist nach unten gerichteten Blick. «Ich nahm den typischen Weg: Über die Grenze in die Türkei, mit dem Boot auf die griechische Insel Kos, dann in die griechische Hauptstadt Athen.» Dort wurde seine Flucht gestoppt. Fünf Monate lang wartete er. Auf eine Chance, weiterzukommen.

«Ich hatte meine Flucht gründlich geplant», erzählt Mussa. Als Kurde habe er ein Land gesucht, das die Menschenrechte respektiert. «Darum habe ich mich für die Schweiz entschieden.» Das war im Frühjahr 2015.

«Die Schweiz ist ein schönes Land. Hier kann man viel machen. Aber man braucht Geduld, das habe ich hier gelernt», sagt Mussa, 31 Monate nachdem er das Asylgesuch gestellt hat – 38 Monate nachdem er seine Heimat verlassen hat.

Der ungeduldige Perfektionist

Geduld gehörte nie zu seinen Stärken. Dem zielstrebigen jungen Mann konnte es kaum schnell genug gehen, bis ein Ziel erreicht war. Und er sei schon sein ganzes Leben lang ein Perfektionist gewesen: «Das habe ich von meinem Vater.»

Seine Eltern, eine Schwester und der Bruder sind noch in Syrien, die zweite Schwester lebt in Holland. «Es geht ihnen gut», sagt Ferhad Mussa. Er meint damit: «Sie leben noch.» Denn in dem Dorf ausserhalb der Stadt Afrin nahe der türkischen Grenze ist es gefährlich wegen den türkischen Truppen und den syrischen Extremisten.

Sein Glück macht Ferhad Mussa abhängig vom Job. Zwei Monate war er auf Arbeitssuche. Ab Januar 2018 hat er wieder eine Stelle: ein Praktikum bei einer Firma im Bereich der Biomedizintechnik. Der Lohn in den Praktika sei nicht hoch. Aber Mussa lebt sparsam. «Wenn ich eine Festanstellung bekomme, möchte ich meine Familie in Syrien unterstützen.»

Heks-Projekt «MosaiQ»

Die Teilnehmenden des Projekts werden von Laufbahnberatern bei der Praktikums- oder Stellensuche unterstützt, erhalten Informationen über Zusatzausbildungen und Beratung bei der Anerkennung ihrer Diplome. Dieter Wüthrich, Sprecher des Heks, erklärt: «Zurzeit sind 69 Personen im Coaching, 26 Begleitungen konnten bereits abgeschlossen werden.» (sil)

Weitere Informationen gibt es unter: «Heks MosaiQ»

Oder unter: «Chancen geben»

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