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Discounter-Manager berichtet "Erst mal im Schlamm liegen"

Der Umgang mit Mitarbeitern im Discount ist rau: Angestellte und Führungskräfte werden schikaniert, gedemütigt und kontrolliert. Ex-Manager Michael Fischer berichtet über brüllende Chefs, Schinderei und Alkohol gegen den Dauerstress. Von Susanne Amann und Simone Salden
Ehemaliger Discounterleiter Fischer: "Ich wollte das durchhalten"

Ehemaliger Discounterleiter Fischer: "Ich wollte das durchhalten"

Foto: Gian Marco Castelberg/ 13Photo/ DER SPIEGEL
Zur Person

Michael Fischer arbeitete bis Ende 2011 im Management deutscher Discounter. Der 49-Jährige war 13 Jahre lang als Verkaufs- und Bereichsleiter für bis zu 75 Filialen zuständig, erst bei der Rewe-Tochter Penny, danach bei Norma. Zuletzt war er Leiter eines Lidl-Warenverteilzentrums in der Schweiz - bevor er seinen Job kündigte und über seine Erfahrungen unter einem Pseudonym ein Buch schrieb. Heute arbeitet Fischer im Management eines internationalen Konsumgüterherstellers.

SPIEGEL: Herr Fischer, wie fühlt man sich nach einer 100-Stunden-Woche?

Fischer: Ich würde gern sagen, man fühlt sich beschissen. Das Problem ist aber: Sie sind einfach nur fertig, Sie fühlen nichts mehr.

SPIEGEL: Sie haben als Manager viele Jahre lang regelmäßig 80 bis 100 Stunden pro Woche gearbeitet. Geht das im Discountbereich nicht anders?

Fischer: Es ist zumindest nicht ungewöhnlich. Das fängt schon in der Einarbeitungszeit an: Selbst wenn man für eine mittlere oder obere Managementposition eingestellt wird, muss man erst mal durch die sogenannte Filialphase, das heißt eine Filiale führen. Da geht es nicht darum, das Unternehmen kennenzulernen. Da geht es darum, die Leute zu brechen. "Die müssen erst mal im Schlamm liegen, die müssen fertiggemacht werden - und wenn sie es überleben, dann behalten wir sie", hat mir einer meiner Vorgesetzten mal gesagt.

SPIEGEL: Was heißt das konkret?

Fischer: Als ich zum Beispiel als Verkaufsleiter bei Penny angefangen habe, musste ich in meiner ersten Woche eine personell komplett unterbesetzte Filiale betreuen. Als mein Vorgesetzter zur Kontrolle kam, fing er sofort an zu brüllen: "Der Laden ist scheiße! Ich trete dir in die Eier, und wenn du schreist, trete ich noch mal zu!" Der Landeschef von Penny bezeichnete seine Führungskräfte gern als Vogelscheuchen, Idioten oder einfach als Presswurst, wenn er der Meinung war, der Betroffene sei zu dick.

SPIEGEL: Entschuldigung, aber das glauben wir jetzt nicht. So geht man doch nicht mit jemandem um, den man holt, um hinterher knapp 75 Filialen als Verkaufsleiter zu betreuen.

Fischer: Das ist der übliche Ton im Discount.

SPIEGEL: Wie soll man das aushalten?

Fischer: Man bekommt Schmerzensgeld: Das Gehalt ist hoch, man bekommt einen großen Dienstwagen und steigt sehr schnell auf.

SPIEGEL: Das soll reichen, um sich derart demütigen zu lassen?

Fischer: Bei mir hat es sehr lange funktioniert. Allerdings auch, weil ich - wie viele andere - meinen Frust und meinen Stress mit Alkohol und Tabletten betäubt habe. Ich habe exzessiv gesoffen, Antidepressiva und andere Psychopharmaka geschluckt.

SPIEGEL: Und das ist niemandem aufgefallen?

Fischer: Nein. Bei Betriebsfeiern waren am Ende alle sternhagelvoll. Und ich war viel unterwegs, bin also abends volltrunken ins Hotelbett gefallen und habe mir dann am nächsten Morgen Tabletten eingeschmissen. Dann war ich zwar verkatert und müde, aber einsatzfähig.

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SPIEGEL: Wie ging es dann weiter?

Fischer: Ich habe genauso exzessiv gearbeitet, wie ich gesoffen habe. Und da war ich nicht der Einzige. Alle arbeiten am Limit. Dass ich das aber so lange durchgehalten habe, war schon eine Ausnahme. Die Personalfluktuation im Discount ist extrem hoch. Der Job macht die Leute auf Dauer einfach fertig, da geht keiner regulär in Rente.

SPIEGEL: Wie hat sich das auf Ihr Privatleben ausgewirkt?

Fischer: Für meine Frau war das schlimm, die hat wirklich gelitten. Ich war ja ein familiärer Totalausfall, entweder unterwegs auf Filialtour, auch samstags, oder am Telefon. Die Vorgesetzten haben einen auch am Wochenende ständig angerufen. Es gab für mich damals praktisch kein Privatleben. Die meisten Kollegen waren schon geschieden, oder ihre Ehen gingen schnell in die Brüche. Dass ich immer noch verheiratet bin, ist wirklich ein Wunder.

SPIEGEL: Wie kann man in so einem Zustand über Jahre die geforderten Leistungen bringen?

Fischer: Man lernt im Laufe der Zeit bestimmte Tricks. Im Handel sind zum Beispiel immer die Inventurergebnisse wichtig, also das Verhältnis der Fehlmengen prozentual zum Umsatz. Sie kriegen ein Problem, wenn zu viele Waren kaputtgehen oder geklaut werden.

SPIEGEL: Und es wird viel geklaut?

Fischer: Es wird wahnsinnig viel geklaut. Von den Kunden, aber vor allem von den Mitarbeitern.

SPIEGEL: Was haben Sie gemacht, damit die Inventur trotzdem stimmt?

Fischer: Ich habe zum Teil bestehende Mechanismen übernommen. Etwa Plastiktüten, die normalerweise 15 Cent kosten, nicht über den Scanner gezogen, sondern manuell in die Kasse eingegeben und mit 25 Cent berechnet. Das merkt kaum ein Kunde, und wenn doch, kann man sich wortreich entschuldigen. Bei tausend Plastiktüten am Tag kommt da schon was zusammen. Beliebt war auch, Ware als nicht ausgeliefert zu reklamieren, die man natürlich bekommen hat - und diese dann schnell zu verkaufen.

SPIEGEL: Aber das müsste die Geschäftsführung doch irgendwann mitkriegen.

Fischer: Natürlich weiß sie das, das weiß jeder. Es gab zum Beispiel in Bayern viele Jahre lang das Spiel mit den Brezeln: Es gibt tiefgefrorene Brezeln, die direkt in den Filialen aufgebacken werden. Außerdem gibt es einen Zehnerpack Tiefkühlbrezeln direkt zu kaufen - und die sind pro Stück zehn Cent billiger. Also werden seit Jahren die Zehnerpacks aufgerissen und im Laden aufgebacken. Davon werden einige Tausend pro Woche verkauft - und Sie haben als Filialleiter immer ein gutes Plus in der Kasse.

SPIEGEL: Aber warum sollte der Betrug toleriert werden?

Fischer: Weil alle etwas davon haben: Der Filialleiter freut sich, weil er eine gute Inventur hat und einen Bonus bekommt. Das Gleiche gilt für den Verkaufsleiter, den Regionalleiter und den Geschäftsführer. Der Betrug wird erst dann zum Thema, wenn man jemanden loswerden will.

SPIEGEL: Dann muss man ihm aber erst mal ein Vergehen nachweisen, oder?

Fischer: Ach, was das angeht, ist man im Discount flexibel.

SPIEGEL: Was heißt das?

Fischer: Wir hatten beispielsweise mal eine Mitarbeiterin im Verdacht zu klauen. Deshalb haben wir ihr eine Falle gestellt: Wir haben einen Geldbeutel bei ihr abgeben lassen, den angeblich jemand liegen gelassen hatte. Wir hatten die Geldscheine präpariert. Am nächsten Tag bin ich gemeinsam mit dem Bezirksleiter an ihre Tasche, wir haben den präparierten Schein in ihrem Geldbeutel entdeckt und sie daraufhin damit konfrontiert.

SPIEGEL: Wie hat sie reagiert?

Fischer: Sie ist total ausgeflippt, hat es vehement abgestritten und sogar einen Herzanfall vorgetäuscht. Sie lag röchelnd auf dem Boden und hat immer nur nach ihrer Tasche gerufen - sie wollte wahrscheinlich den Geldschein verschwinden lassen.

Foto: DER SPIEGEL

SPIEGEL: Haben Sie in dem Moment nicht überlegt, dass sie vielleicht doch ernsthaft in Gefahr sein könnte?

Fischer: Ich habe kurz darüber nachgedacht, die Situation war surreal. Aber als ich ihr sagte: "Wir holen einen Krankenwagen und die Polizei", war sie von einer Sekunde auf die andere wieder ruhig und hat alles zugegeben.

SPIEGEL: Aber geht man so mit Menschen um? Selbst wenn sie einen Fehler machen?

Fischer: Aus heutiger Sicht sage ich: nein, natürlich nicht. Aber damals war ich daran gewöhnt, es war der normale Wahnsinn. Ich habe das nicht infrage gestellt.

SPIEGEL: Wie hat der Betriebsrat bei solchen "Personalgesprächen" reagiert?

Fischer: In dieser Region gab es keinen Betriebsrat, das war also kein Problem. In der Tat sorgt die Existenz eines Betriebsrats für den entscheidenden Unterschied, dann sind die Mitarbeiter nicht mehr gänzlich vogelfrei. Wobei die Führungsriege genau gewusst hat, wie sie die Betriebsräte mit regelmäßigen Einladungen oder kleinen Geschenken bei Laune halten konnte. Einmal hat sich auch ein Verkaufsleiterkollege in den Betriebsrat wählen lassen. Danach war die Geschäftsleitung stets bestens über alle Aktivitäten informiert.

SPIEGEL: Kümmert sich der Betriebsrat denn um das Thema Arbeitsschutz?

Fischer: Ach, das ist was für Weicheier. In der Einarbeitungszeit hatten viele neue Mitarbeiter blutige Schnittverletzungen an den Händen, weil sie ständig Kartons aufschlitzen mussten, es aber keine richtigen Arbeitshandschuhe gab. Die waren zu teuer. Die weit größere Gefahr sind allerdings die elektrischen Hubgeräte und Gabelstapler. Oft bekommen die Kollegen keine Einweisung und brettern einfach drauflos. Im Zentrallager haben die Mitarbeiter die Dinger mithilfe einer Anleitung aus dem Internet getunt. Ich habe schlimme Unfälle erlebt, einige Kollegen landeten mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus.

SPIEGEL: Warum macht man das alles mit?

Fischer: Ich habe das auf gewisse Weise bewundert und gedacht: wow, was für harte Hunde. Ich wollte das durchhalten.

SPIEGEL: Und respektiert werden...

Fischer: Ich saß einmal mit meinem Chef im Büro, er hatte das Handy am Ohr. In dem Moment geht die Tür auf, und der Deutschlandchef kommt herein, mit einem kleinen Ball in der Hand. Er zielt auf meinen Chef und wirft ihm mit dem Ball das Handy vom Ohr weg. Und sagt dann grinsend: "Oh, kannst du mir meinen Ball wiedergeben?"

SPIEGEL: Das ist doch krank.

Fischer: Natürlich ist das krank.

SPIEGEL: Was denkt man da?

Fischer: Mir war immer klar, dass das reine Machtspielchen sind. Sie sind brutal - aber gleichzeitig auch einfach zu durchschauen.

SPIEGEL: Aber sie sind sinnlos...

Fischer: Nicht wenn Sie in diesen Kategorien denken. Macht bedeutet ja immer auch Kontrolle. Unsere Bezirksleiter mussten ihre Einsatzpläne vorlegen, damit wir jederzeit wussten, wann sie in welcher Filiale sind. Das wurde durch Anrufe kontrolliert, mindestens einmal die Woche wurde ihnen auch hinterhergefahren. Man hat die Facebook-Accounts gecheckt, die Telefonrechnungen kontrolliert. Wer krank war, wurde mit Blumen "besucht", um sicherzugehen, dass der Kollege auch wirklich krank ist. Und natürlich wurden in großem Stil Kameras eingesetzt.

SPIEGEL: Auch nachdem der Überwachungsskandal bei Lidl aufgeflogen war?

Fischer: Diesen Tag werde ich nie vergessen. Mein damaliger Vorgesetzter kam in mein Büro gerannt und rief: "Bei Lidl hat es gekracht, lass sofort alle Kameras in unseren Filialen abbauen!" Ich glaube, in dieser Nacht waren in jedem deutschen Discounter die Leute damit beschäftigt, Tausende Kameras abzuschrauben. Der Kontrollwahn war aber auch danach allgegenwärtig. Manche haben sogar überlegt, ob man die Handys der Bezirksleiter heimlich orten lassen könnte. Der Plan wurde dann aber verworfen.

SPIEGEL: Damit beschäftigt man hoch bezahlte Manager? Das hat doch nichts mit effizientem Arbeiten zu tun.

Fischer: Nein, aber das will ja auch niemand. Im Discount sind die Spielregeln von Anfang an klar: Eine eigene Meinung zu haben ist tödlich. Widerspruch auch. Und Karriere macht nur, wer sich an die Spielregeln hält.

"Ich würde keiner jungen Frau empfehlen, sich allzu lange auf einer Weihnachtsfeier aufzuhalten."

SPIEGEL: Gibt es viele Frauen im Management der Discounter?

Fischer: Nein, es gibt sehr wenige. Es ist ein offenes Geheimnis, dass man wenig Wert auf Frauen legt. Auf Homosexuelle übrigens auch nicht. Ich habe einmal einen sehr, sehr guten Bewerber gehabt, der war schwul und hat als Hobby auch noch "Kirchenfresken" angegeben. Der war nach zwei Wochen wieder weg.

SPIEGEL: Weil Frauen und Schwule nicht in das männliche Machtgefüge passen?

Fischer: Vielleicht lassen die sich nicht so gern anschreien und demütigen. Außerdem finden sie wahrscheinlich auch die Herrenabende nicht so gut, die im Bordell enden.

SPIEGEL: Wie bitte?

Fischer: Na, nehmen Sie so Veranstaltungen wie die Ernährungsmesse Anuga in Köln. Da weiß das ganze Unternehmen, dass die Geschäftsleitung sich abends im Rotlichtmilieu tummelt. Und ich würde auch keiner jungen Frau empfehlen, sich allzu lange auf einer Weihnachtsfeier aufzuhalten.

SPIEGEL: Wir müssen das jetzt noch mal fragen: Warum macht man so etwas mit?

Fischer: Weil Sie schon nach drei bis fünf Jahren 120.000 oder 140.000 Euro verdienen? Oder ein dickes Auto fahren? Ich hatte am Schluss einen Audi A6 Quattro mit allem Schnickschnack. Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich Scheibenwischer für die Scheinwerfer brauche.

SPIEGEL: So einfach ist das zu erklären? Sie haben ja ein ziemlich pessimistisches Menschenbild.

Fischer: Ich habe den Glauben an die Menschheit völlig verloren. Im Übrigen auch den Glauben an den Kunden. Alle Welt regt sich auf, dass Tiere misshandelt werden, trotzdem kaufen alle das billige Fleisch. Das ist im Discount das Gleiche: Jeder Kunde weiß um die Arbeitsbedingungen, aber weil die Preise so niedrig sind, kaufen trotzdem alle da. Das ist doch erbärmlich.

SPIEGEL: Was hat bei Ihnen den Ausschlag gegeben, dann doch auszusteigen?

Fischer: Ich bin irgendwann zusammengebrochen. Während meines letzten Jobs bei Lidl in der Schweiz habe ich komplett die Kontrolle über das Trinken verloren, war deswegen mehrfach stationär in Behandlung. Und eines Abends saß ich im Auto, übermüdet, ausgelaugt, fertig mit den Nerven. Im Radio spielten sie so einen sentimentalen Song, ich glaube "Nothing compares to you" - und da war es mit mir vorbei. Ich bin heulend zusammengebrochen und wusste: Da komme ich nur raus, wenn ich sofort kündige. Das habe ich dann auch getan, das hat mir mein Leben gerettet.

SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteurinnen Susanne Amann und Simone Salden.