Ich bin weiß, männlich, hoch qualifiziert, ich habe einen deutschen Pass, sehr gute Noten und Arbeitserfahrung – und wenn ein Job es verlangt, erscheine ich selbstverständlich in Hemd und Anzug. Ich habe mit Chemie auch kein völlig arbeitsmarktfernes Fach für mein Studium und meine Promotion gewählt. Trotzdem bin ich seit fast zwei Jahren arbeitslos. Warum? Vielleicht auch weil ich einen osteuropäisch klingenden Namen trage. Ganz sicher aber, weil ich mich in einer konservativen Branche bewerbe und einen eher unkonventionellen Ohrschmuck habe.

Als ich 16 war, habe ich mir Flesh Tunnels zugelegt. Das sind geweitete Piercings in beiden Ohrläppchen, jeweils ein kleines Loch mit 20 Millimeter Durchmesser. Nicht riesengroß, aber für meine Branche wohl 20 Millimeter zu groß. Damals in den neunziger Jahren war das Mode – und ich ein Teenager, der Techno mochte und auch so aussehen wollte. So ein Piercing ist irreversibel.

Schon bei der Bewerbung für meinen letzten Job habe ich lange suchen müssen. Insgesamt habe ich in den vergangenen vier Jahren deshalb etwa 380 Bewerbungen geschrieben. Meine Anschreiben sind todoptimiert, seit ich mir da professionelle Hilfe von erfahrenen Personalern geholt habe. Zum Vorstellungsgespräch eingeladen werde ich aber nur ganz selten. Schuld daran kann nicht nur die Konkurrenz sein, die in meiner Branche zweifelsfrei herrscht, sondern es muss auch mit meinen Piercings zu tun haben. Dabei sehe ich auf meinem Bewerbungsfoto wirklich gestriegelt und geschniegelt aus, trage zum Anzug passende, dezente Stecker: kleinere, massive Plugs, ein Ohrschmuck, der weder groß auffällt noch ein Loch im Ohr zur Schau stellt. 

Vielfalt am Ohrläppchen nicht gestattet

Vielleicht sollte ich die Stecker noch ein bisschen kleiner photoshoppen? Eine Sachbearbeiterin bei der Arbeitsagentur musterte mal anerkennend mein Foto, sagte dann aber doch: "Ja, aber das sind halt immer noch Sie!" Sie meinte natürlich meine Tunnels.

Ich wurde in vier Jahren nur zu vier Vorstellungsgesprächen eingeladen. Bei jedem habe ich gemerkt, dass die Blicke immer wieder an meinen Ohrläppchen hängenbleiben, aber das ist ja auch in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, dass mich in einem Bewerbungsgespräch mein Gegenüber fragte: "Haben Sie etwa vor, in den Kongo auszuwandern?" Ich wünschte, mir wäre damals eine schlagfertige Antwort eingefallen.

Im Nachhinein denke ich, dass es ein großer Fehler war, mich bei meiner Berufswahl für eine konservative Branche zu entscheiden. Hier haben es sogar Männer mit längeren Haaren schwer. In der Medienbranche dagegen wäre ich mit meinen Tunnels wohl kein Exot. Als ich in meinem letzten Job einmal Kundenkontakt haben sollte, hat mein damaliger Chef lieber einen anderen Kollegen hingeschickt, obwohl mein Vorgesetzter persönlich überhaupt kein Problem mit meinem Ohrschmuck hatte. Der fand mich deshalb sogar direkt sympathisch, weil er zunächst dachte, ich sei Heavy-Metal-Fan – so wie er.