Militärtechnik «made in Turkey»: Wieso die Türkei ein russisches Flugabwehrsystem kaufen will

Die Türkei treibt den Kauf eines russischen Flugabwehrsystems voran und ärgert damit die westlichen Bündnispartner. Doch letztlich will Ankara seine Rüstungsindustrie stärken.

Marco Kauffmann Bossart, Istanbul
Drucken
Eine erste Anzahlung für das russische Raketenabwehrsystem hat die Türkei bereits nach Moskau überwiesen. (Bild: Dmitry Lovetsky / AP)

Eine erste Anzahlung für das russische Raketenabwehrsystem hat die Türkei bereits nach Moskau überwiesen. (Bild: Dmitry Lovetsky / AP)

Anfang Woche, auf dem Rückflug von Kasachstan, liess der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gegenüber heimischen Journalisten die Bemerkung fallen, das Rüstungsgeschäft mit Russland sei jetzt unter Dach und Fach. Seines Wissens habe sein Land schon eine Anzahlung für das Flugabwehrsystem S-400 geleistet. Bei der Nato, der die Türkei seit 1952 angehört, hiess es lapidar, man sei über die Einzelheiten des Kaufs nicht informiert worden.

Amerikas Einwände verhallen ungehört

Wenngleich es Mitgliedern des westlichen Verteidigungsbündnisses freisteht, ohne Plazet aus Brüssel Waffensysteme zu erwerben, wirft die Kommunikation über das Rüstungsgeschäft ein Schlaglicht auf die unterkühlten Beziehungen Ankaras zu zwei Schwergewichten in der Nato: Deutschland und Amerika. Washington hatte vergeblich versucht, die Türken von einem Deal mit den Russen abzuhalten.

Aus dem Pentagon verlautete, man habe Ankara die Bedenken über das mögliche Waffengeschäft zur Kenntnis gebracht. In der Erklärung schwang die Hoffnung mit, die Türkei könnte in letzter Minute einen Rückzieher machen. Allerdings deutet bis anhin nichts darauf hin. Auf der anderen Seite hält Washington einen starken Trumpf in der Hand. 2018 ist die Lieferung von 100 amerikanischen Kampfjets des Typs F-35 vorgesehen. Amerika könnte seinen Bündnispartner länger hinhalten.

Gegen das S-400-Geschäft, das sich laut türkischen Medien auf 2,5 Milliarden Dollar beläuft, sprechen aus westlicher Optik nicht allein politisch-strategische Überlegungen. Es kommen praktische Bedenken hinzu. Die Schlagkraft der Nato hängt von der Kompatibilität der Waffensysteme ihrer Mitglieder ab. Aus technischen und sicherheitsrelevanten Gründen scheint es nahezu ausgeschlossen, dass die russische Hardware in die Nato-Architektur integriert wird.

Künftig dürften daher in der Türkei zwei unterschiedliche, voneinander unabhängige Flugabwehr-Technologien eingesetzt werden: zum einen die russischen S-400, die laut der Istanbuler Denkfabrik Edam frühestens 2019 geliefert werden. Zum anderen Waffensysteme der Nato. Spanien hat derzeit amerikanische Patriot-Raketen an der Grenze zu Syrien stationiert. Deutschland beendete seine dortige Mission 2015.

Doppelbödigkeit des Westens?

Ankara hat für die Aufregung in Washington und Brüssel wenig Verständnis. Das Standardargument lautet: Das Nato-Mitglied Griechenland verwende ebenfalls ein russisches Flugabwehrsystem. Doch handelt es sich dabei um das Vorgängermodell S-300, das Zypern - auf Druck der Türkei - in den 1990er Jahren an Griechenland abtrat. Athens Bemühen, die Rüstungskooperation mit Russland zu intensivieren, wurde durch die EU-Sanktionen gegenüber Moskau zurückgeworfen.

Nach Ankaras Lesart erhalten die westlichen Nato-Partner jetzt die Quittung für fehlende Kooperationsbereitschaft. «Die rasten aus, weil wir ein Abkommen über S-400-Abwehrraketen trafen», höhnte Erdogan am Mittwoch. «Was hätten wir denn tun sollen? Auf euch warten?» Die russische Technologie soll in der Lage sein, Flugzeuge in einer Entfernung von rund 400 Kilometern sowie Raketen in einer Distanz von bis zu 60 Kilometern abzuschiessen.

Erdogan hatte sich kürzlich auch beschwert, der Westen rüste «Terroristen» militärisch aus und brüskiere gleichzeitig die Türkei. Er spielte damit auf die Bewaffnung der syrischen Kurdenmiliz YPG durch die Amerikaner an. Umgekehrt hatte sich die westliche Führungsmacht nach Erdogans Wahrnehmung darum foutiert, sein Land bei der Beschaffung eines Flugabwehrsystems zu unterstützen. Wasser auf die Mühlen der türkischen Opfer-Rhetorik ist die verständliche Position der deutschen Regierung, Rüstungsexporte in die Türkei restriktiver zu handhaben.

In einer ersten Ausschreibung Ankaras für ein Raketenabwehrsystem hatten auch amerikanische und europäische Rüstungshersteller mitgeboten. Den Zuschlag erhielt indes eine chinesische Firma. 2015 überwarfen sich die Vertragspartner. China hat sich den sehr weitreichenden Forderungen Ankaras bezüglich Technologietransfers widersetzt.

Russland soll hingegen zugesagt haben, nach der Lieferung einer ersten Tranche von Abwehrbatterien die folgenden zwei S-400-Einheiten lokal, mit einem türkischen Partner, zu produzieren. Ankara hat sich das Ziel gesetzt, bis 2025 mit zugekaufter Technologie ein eigenes Raketenabwehrsystem zu entwickeln. Diesem Zweck dient offenkundig auch ein Projekt der türkischen Staatsfirma Roketsan mit der französisch-italienischen Eurosam.

Hochfliegende Pläne

Militärtechnik «made in Turkey» gehört zum Programm der islamisch-konservativen AKP-Regierung. 2015 liess der damalige Regierungschef Ahmet Davutoglu anklingen, wohin die Reise geht. Sein Land habe lange Geld zusammengebettelt, um ausrangiertes Gerät zu beschaffen. Davutoglu schwärmte von einer selbstbestimmten Zukunft ohne Bücklinge und einer nationalen Rüstungsindustrie. Erdogan lobte dieser Tage, Kampfdrohnen aus heimischer Fertigung hätten innerhalb einer Woche über 90 YPG-Terroristen getötet.

2023, wenn die Republik ihr 100-Jahre-Staatsjubiläum feiert, soll ein türkischer Kampfjet in die Luft steigen. Laut dem Militäranalytiker Metin Gürcan basiert die Maschine auf einem Modell, das für 20 Millionen Dollar vom schwedischen Hersteller Saab erworben wurde. Der erste «türkische» Jet wird mehr kosten als vergleichbare Bomber. Doch sticht der Nationalstolz offenkundig monetäre Kriterien aus.

Vor diesem Hintergrund scheint die Befürchtung, die Türkei könnte sich vollständig von der Nato abwenden und stattdessen in die Arme Moskaus fallen, überzogen. Ankara optimiert pragmatisch seine Rüstungspolitik, ohne das über Jahrhunderte gewachsene Misstrauen gegenüber Russland abzulegen. Und der russische Präsident Wladimir Putin hat nichts dagegen, einen Keil zwischen die Türkei und die anderen Nato-Staaten zu treiben.

Weitere Themen