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WikiLeaks-Gründer Julian Assange "Die Angriffe machen uns härter"

WikiLeaks feiert den zehnten Geburtstag. Hier zieht Julian Assange, Gründer der Enthüllungsplattform, eine Bilanz - und weist wachsende Kritik an seiner Arbeitsweise zurück.
Assange vor der Ecuadorianischen Botschaft in London

Assange vor der Ecuadorianischen Botschaft in London

Foto: JACK TAYLOR/ AFP
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

SPIEGEL: Herr Assange, zehn Jahre nach der Gründung von WikiLeaks gibt es neue Kritik an der Enthüllungsplattform. WikiLeaks soll Millionen türkischer Wählerinnen in Gefahr gebracht haben. Was ist dran an diesem Vorwurf?

Assange: Das ist absolut falsch. Wir haben weder die Namen noch die Adressen oder Telefonnummern aller wahlberechtigten türkischen Frauen veröffentlicht, als wir Tausende von Mails an die türkische Regierungspartei AKP publik machten - das lässt sich auf unserer Website ganz einfach überprüfen. Diese Kritik wurde übrigens nur wenige Tage nach unserer Veröffentlichung interner Mails der US-Demokraten bekannt. Mächtige Gegner schlagen mit Lügen zurück. Das ist nicht überraschend ...

SPIEGEL: ... und führt zum nächsten Vorwurf. Eine ganze Reihe deutscher Journalisten, die mit WikiLeaks sympathisierten, stört sich daran, dass Sie diese Mails der amerikanischen Demokraten veröffentlicht haben. Machen Sie Wahlkampf für Donald Trump, wie zum Beispiel SPIEGEL ONLINE-Kolumnist Sascha Lobo Ihnen vorhält?

Assange: Unsinn. Die Veröffentlichung der Mails hat gezeigt, dass das Democratic National Committee die Vorwahlen in den Vereinigten Staaten zugunsten von Hillary Clinton und zum Nachteil von Bernie Sanders manipuliert hat. Der Rücktritt von führenden Mitgliedern des Komitees, darunter seiner Präsidentin Debbie Wasserman Schultz, war die Folge.

SPIEGEL: Mitarbeiter von Hillary Clinton haben behauptet, die Mails seien von russischen Geheimdiensthackern besorgt und WikiLeaks zugespielt worden.

Assange: Wir nennen unsere Quellen nicht - und kennen sie in den allermeisten Fällen auch gar nicht. Im Übrigen gibt es viele Versuche, von der Wirkung unserer Veröffentlichungen abzulenken. Und was Clinton angeht, verbünden sich immer die meisten Medien mit den mutmaßlichen Gewinnern einer Wahl. Obwohl sie den Anspruch erheben, den Mächtigen auf die Finger zu schauen.

SPIEGEL: Fakt ist, WikiLeaks schwächt Clinton und stärkt damit Trump.

Assange: Wir werden nicht damit anfangen, unsere Veröffentlichungen einer Selbstzensur zu unterwerfen, nur weil in den USA Wahlen bevorstehen. Unsere Aufgabe ist es zu veröffentlichen. Da Clinton in der Regierung war, haben wir noch mehr über sie publik zu machen. Es herrscht ohnehin eine große Naivität. Die Präsidentin oder der Präsident werden weiterhin die großen Machtblöcke der Vereinigten Staaten vertreten, Big Business, das Militär. Einerlei, wer gerade im Weißen Haus sitzt.

SPIEGEL: Wenn jemand interne Dokumente der Trump-Wahlkämpfer oder der Republikaner bei WikiLeaks einlieferte, würden Sie diese ebenso veröffentlichen?

Assange: Selbstverständlich. Was werfen Sie mir denn vor? Sollen investigative Medien, die Informationen über Korruption oder unethisches Verhalten von Präsidentschaftskandidaten bekommen, diese nicht veröffentlichen? Das wäre in meinen Augen unethisches Verhalten.

SPIEGEL: Das deutsche Magazin "Focus" hat WikiLeaks gerade beschuldigt, es habe angebliche US-Geheimdienstdokumente veröffentlicht, die von russischen Agenten gefälscht worden waren. Was sagen Sie dazu?

Assange: Diese Behauptungen sind nicht glaubhaft. Sogar die US-Regierung musste einräumen, dass es keine Beweise für eine Verbindung von WikiLeaks mit russischen Geheimdiensten gibt. Ich habe 2008 einen Artikel darüber veröffentlicht, wie das von Ihnen erwähnte Magazin vom deutschen Bundesnachrichtendienst beeinflusst wurde. Wir haben eine Liste von 58 Kontakten eines "Focus"-Journalisten mit BND-Leuten publiziert.

SPIEGEL: Ist es nicht eine strukturelle Schwachstelle von WikiLeaks, dass sich nicht jedes anonym eingelieferte Dokument verlässlich überprüfen und verifizieren lässt, sodass Ihnen gefälschte Dokumente untergejubelt werden können?

Assange: Wir haben eine hervorragende Bilanz beim Aufspüren von Fälschungen. Und im Gegensatz zur traditionellen Presse veröffentlichen wir alle Dokumente im Internet, sodass jeder Interessierte sie auch überprüfen kann. WikiLeaks ist der schlechteste Ort, um gefälschte Dokumente in Umlauf zu bringen.

SPIEGEL: Zeigen die aktuellen Vorwürfe Wirkung, unabhängig davon, ob sie zutreffen oder nicht?

Assange: Bei der Desinformationskampagne gegen WikiLeaks handelt es sich um eine uralte, aber meist funktionierende Technik. Es wird behauptet, dass der Whistleblower und WikiLeaks für den Feind arbeiten. Das ist weder neu noch interessant, aber die Hysterie, die Hillary Clinton und ihre Leute im Bezug auf Moskau geschaffen haben, ist erheblich.

SPIEGEL: WikiLeaks würde Material über Korruption in der russischen Führungsspitze veröffentlichen?

Assange: Ja. Wir haben bereits mehr als 650000 Dokumente über Russland und Präsident Putin publiziert, von denen die meisten kritisch waren und von Kreml-kritischen Autoren für Bücher genutzt wurden, zum Beispiel für "Mafia State" des "Guardian"-Journalisten Luke Harding. Die Dokumente wurden auch in einer Reihe von Gerichtsverfahren verwendet, etwa das um den Energiekonzern Jukos.

Assange

Assange

Foto: Ben Stansall / AFP

SPIEGEL: Wie wollen Sie verhindern, dass finstere Mächte WikiLeaks im globalen Informationskrieg missbrauchen?

Assange: Die Kriterien für unsere Veröffentlichungen sind öffentlich und haben sich nicht geändert. Wenn eine Quelle uns Material überlässt, das von politischer, diplomatischer, historischer oder ethischer Bedeutung ist und das noch nicht veröffentlicht wurde, dann machen wir es publik. Einerlei, woher es kommt. Die Mehrzahl der veröffentlichten Materialien ist in Englisch, weil die meisten unserer Leser Englisch sprechen. Aber wir haben auch Dokumente veröffentlicht, die in anderen Sprachen verfasst wurden, unter anderem in Chinesisch, Russisch, Arabisch, Türkisch, Französisch, Deutsch.

SPIEGEL: Am 4. Oktober 2006 haben Sie die Domain www.wikileaks.org angemeldet. Wie sieht Ihre Bilanz heute aus?

Assange: WikiLeaks hat in zehn Jahren über zehn Millionen Dokumente veröffentlicht. Die meisten davon haben wir in den sechs Jahren herausgebracht, die ich in Großbritannien illegal, ohne eine Anklage, festgehalten werde.

SPIEGEL: Sie haben von der Regierung Ecuadors politisches Asyl bekommen, aber sitzen seit über vier Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Die britische Justiz will Sie verhaften und zu einer Zeugenvernehmung nach Schweden ausliefern lassen. Hat das WikiLeaks nicht entscheidend in seiner Arbeit behindert?

Assange: Nicht wirklich. Während viele etablierte Medien Verluste machen oder sogar pleitegehen, hat WikiLeaks eine wirtschaftliche Blockade von Banken, Kreditkartenfirmen und PayPal überlebt, die von politischen Elementen in den USA initiiert wurde. Trotz dieser Blockade wächst WikiLeaks. Wir haben keine Schulden, und wir mussten niemanden von unseren Mitarbeitern entlassen. Wir mussten keine einzige unserer Publikationen zensieren. Wir haben keinen Rechtsstreit verloren, bei dem es um von uns veröffentlichte Dokumente ging. Die Angriffe machen uns nur härter. Wir sind jetzt zehn Jahre alt. Warten Sie ab, bis wir mal Teenager sind.

SPIEGEL: Was war die bislang wichtigste Veröffentlichung von WikiLeaks?

Assange: Das Wichtigste war, dass wir überhaupt so viele Dokumente publik machen konnten. Inhaltlich am bedeutendsten waren wohl die diplomatischen Depeschen der US-Regierung. Wir veröffentlichten 2011 zunächst 251000 Dokumente, inzwischen sind drei Millionen hinzugekommen. Und es werden noch mehr.

SPIEGEL: Was waren die Fehlleistungen von WikiLeaks, was sind die Schwachstellen?

Assange: Entscheidend waren und sind die finanziellen Ressourcen: Sah sich WikiLeaks gezwungen, eine bestimmte Sache anstelle einer anderen zu tun? Ja, andauernd.

SPIEGEL: Geben Sie uns sein Beispiel.

Assange: Unsere Kooperation mit der "New York Times" war nicht einfach. Sie hat ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Whistleblowern, verfügt aber über eine riesige Reichweite, mit der wir die Wirkung unserer Veröffentlichungen verstärken konnten.

SPIEGEL: Bedauern Sie, dass es keine Kooperation mit etablierten Redaktionen wie der "New York Times" oder dem "Guardian" mehr gibt, dass WikiLeaks sogar von vielen liberalen Medien kritisiert wird?

Assange: Wir kooperieren noch mit einzelnen Journalisten dieser Blätter. Liberale Zeitungen sind nicht unbedingt liberal. Aber wir haben derzeit sehr gute Beziehungen zu mehr als 110 Medienorganisationen in aller Welt. Wir haben auch Verträge mit ihnen, in denen die Zusammenarbeit geregelt ist.

SPIEGEL: Ihre Quelle Chelsea Manning, eine US-Soldatin, wurde zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, Edward Snowden sitzt in Russland fest, Sie hier in der ecuadorianischen Botschaft in London. Wie wird man als Whistleblower mit solchen Rückschlägen fertig?

Assange: Wir sollten nicht die Lage von Edward Snowden mit der von Chelsea Manning vergleichen oder dem Hacker Jeremy Hammond, der auch in den USA inhaftiert ist. Nicht zuletzt dank der harten Arbeit von WikiLeaks bekam Snowden in Russland politisches Asyl. Er hat Reisedokumente, er lebt mit seiner Freundin zusammen, geht zu Ballettvorführungen und verdient ordentliche Honorare für Reden. Edward Snowden ist im Wesentlichen frei und glücklich. Das ist kein Zufall. Es war meine Strategie, der einschüchternden Wirkung der 35 Jahre Gefängnis für Chelsea Manning etwas entgegenzusetzen. Und es hat funktioniert.

SPIEGEL: Bei all dem Druck, dem Sie und Ihre Mitstreiter ausgesetzt sind, was versetzt Sie in die Lage weiterzumachen?

Assange: Wir glauben an das, was wir tun. Es ist sehr befriedigend. Es ist intellektuell sehr interessant. Manchmal ergeben sich große Momente von Gerechtigkeit. In einem Fall kam ein falsch angeschuldigter Mann aus dem Gefängnis frei, dank einer Veröffentlichung von uns. Und noch eines: Viele Leute, die für WikiLeaks arbeiten, haben einen ähnlichen Instinkt, wie ich ihn habe: Wenn wir unter Druck gesetzt werden, wehren wir uns.