"Die SPD trägt den Unsinn von Frau Merkel mit" – Seite 1

ZEIT ONLINE: Wie oft haben Sie sich schon vorgestellt, wie es wäre, als Ministerin unter einem SPD-Bundeskanzler Sigmar Gabriel in einem rot-rot-grünen Kabinett zu regieren?

Sahra Wagenknecht: Dafür müssten wir nach der nächsten Wahl mit der SPD ein Programm aushandeln, das die Grundrichtung der Politik verändert. Ich frage mich oft, ob bei der SPD der Wille dazu überhaupt vorhanden ist. Die SPD ist seit 1998 mit Ausnahme von vier Jahren an der Regierung. Seitdem ist die Ungleichheit in Deutschland massiv gestiegen, Millionen Menschen arbeiten heute im Niedriglohnbereich, viele in befristeten Jobs. Wenn die SPD irgendwann die Kurve kriegt und wieder Politik für statt gegen die Arbeitnehmer und eigenen Wähler machen möchte, dann besteht mit uns die Chance auf eine soziale Regierung in Deutschland.

ZEIT ONLINE: In Berlin hat gerade die Linke ein gutes Wahlergebnis erzielt mit der Bereitschaft, mit SPD und Grünen zu regieren. Müssen nicht auch Bundespolitiker wie Sie die Tonlage gegenüber SPD und Grünen ändern, um bei den Wählern anzukommen?

Wagenknecht: Das gute Wahlergebnis in Berlin hat mich sehr gefreut und zeigt, wie es im kommenden Jahr weitergehen kann. Nur ändert das leider nichts daran, dass Herr Gabriel gegen den Willen seiner eigenen Parteibasis gestern im Konvent das Konzernschutzabkommen Ceta durchgedrückt hat und Frau Nahles' aktueller Gesetzentwurf bei Leiharbeit und Werkverträgen sogar nochmalige Verschlechterungen für die Betroffenen vorsieht.

ZEIT ONLINE: Was können Sie denn dann von den Berlinern abgucken?

Wagenknecht: Die Berliner Linke hat einen sehr intelligenten Wahlkampf gemacht, der von einem rebellischen Gestus lebte. Die Kampagne war auf die Frage konzentriert, wem diese Stadt gehören soll – den Immobilienhaien, den oberen Zehntausend oder den Menschen, die hier leben? Das war natürlich auch eine Kampfansage an den regierenden Senat. Angriffslustig, rebellisch, oppositionell, das muss auch unsere Linie zur Bundestagswahl sein.

ZEIT ONLINE: Sie wollen getrennt von SPD und Grünen kämpfen und gemeinsam regieren?

Wagenknecht: Wir wollen dann mit der SPD regieren, wenn sie wieder eine sozialdemokratische Partei wird.

ZEIT ONLINE: Warum war die Linke in Berlin erfolgreicher als in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt?

Wagenknecht: Der Wahlkampf in Berlin war fantasievoll und eben nicht dröge staatstragend und er hat soziale Themen in den Vordergrund gestellt. Man muss allerdings ehrlicherweise dazu sagen, dass Berlin auch ein anderes Pflaster ist. Auch in Berlin hat die Linke nicht in erster Linie bei Arbeitern, prekär Beschäftigten oder Arbeitslosen zugelegt, sondern in den Innenstadtbezirken, in den urbanen akademischen Milieus. Wir müssen uns generell fragen, wie wir Geringverdiener und Arbeitslose wieder besser erreichen. Früher waren wir hier stark verankert, heute wählen diese Gruppen überproportional AfD. Das sind Menschen, die sich von der herrschenden Politik seit Jahren im Stich gelassen fühlen. Mit der Wahl der AfD wollen sie auf sich aufmerksam machen und den anderen Parteien eine Ohrfeige verpassen. Diese Menschen müssen wir für die Linke zurückgewinnen.

ZEIT ONLINE: Gregor Gysi sagt, die Linke müsse regieren, damit die CDU in die Opposition gehe, wieder konservativer werde und so die AfD überflüssig mache.

Wagenknecht: Das teile ich ausdrücklich nicht. Die Union kann die AfD nicht überflüssig machen. Denn es sind doch die klassischen linken und sozialdemokratischen Milieus – Arbeitende, Abgehängte, Arbeitslose – aus denen viele AfD-Wähler kommen. Das ist keine klassische Unionsklientel. Wir müssen diese Menschen wieder erreichen. Das Schlechteste, was wir in diesem Zusammenhang tun könnten, wäre, in eine Bundesregierung einzutreten, die wieder über ihre Köpfe hinweg und gegen ihre Interessen regiert. Wenn auch die Linke verwechselbar wird, so wie es SPD, CDU, FDP und Grüne schon geworden sind, dann geht die AfD ganz nach oben.

Es sei absurd, alle AfD-Wähler als Rassisten zu diffamieren

ZEIT ONLINE: Hat Ihre Partei bisher die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Erstarken der AfD gezogen?

Wagenknecht: Einige in meiner Partei sagen, man könne rechten Protest nicht auf die Mühlen der Linken leiten. Ich halte es für absurd, alle Wähler der AfD als Rechte oder gar als Rassisten zu diffamieren. Das ist einfach Unsinn. Klar gibt es da auch ehemalige NPD-Wähler, die ganz sicher nicht unser Potenzial sind. Aber viele haben früher die Linke gewählt oder waren Nichtwähler. Viele haben in den letzten Jahren Wohlstand verloren, ihr Leben ist härter geworden oder sie haben Angst vor einem sozialen Abstieg. Also nutzen sie jetzt ein – wie ich finde: falsches – Mittel, um ihren Protest zu signalisieren. Sie deswegen als unanständig zu diffamieren, wie es Herr Gabriel indirekt gemacht hat, finde ich komplett daneben.

ZEIT ONLINE: Glauben Sie wirklich, dass Sie die Frustwähler zurückgewinnen können? Die Linke gehört doch auch zum Establishment.

Wagenknecht: Ich bekomme oft genug Mails von Leuten, die unschlüssig sind, ob sie Linke oder AfD wählen sollen. Das sind keine Rassisten, sondern Menschen, die sich alleingelassen fühlen. Selbstverständlich können wir sie zurückgewinnen. Wir sind die einzige Protestpartei, die in grundsätzlicher Opposition zur unsozialen Ausrichtung der Politik in diesem Land und zum neoliberalen Parteienkartell steht.

ZEIT ONLINE: Mit solchen Begriffen helfen Sie denen, die politische Institutionen lächerlich machen. Werden wir jetzt auf Dauer zwei Protestparteien in Deutschland haben, die sich mit ihrer Politikverachtung gegenseitig überbieten?

Wagenknecht: Die AfD ist keine Protestpartei. Das Programm der AfD hat denselben neoliberalen Zuschnitt wie das von CDU und SPD....

ZEIT ONLINE: …. was viele Wähler nicht wissen und vermutlich oft auch gar nicht interessiert, weil sie vor allem ihre Abneigung gegen andere Parteien zum Ausdruck bringen wollen.

Wagenknecht: Ja, trotzdem sollte man doch darauf hinweisen. Abgesehen davon lebt die AfD davon, dass die anderen Parteien sich scheuen, bestimmte Probleme anzusprechen. Das macht sie stark. Und den Fehler sollten wir Linke nicht begehen.

ZEIT ONLINE: Welche Probleme meinen Sie?

Wagenknecht: Es ist natürlich ein Problem, wenn in kurzer Zeit Millionen Menschen mit ganz anderer kultureller Prägung ins Land kommen und die Bundesregierung den Ländern und Kommunen nicht ansatzweise ausreichende Mittel bereitstellt, um Integration zu ermöglichen. Bei der Integration gibt es große Probleme, die wir benennen müssen. Wir haben Probleme mit einem sich radikalisierenden Islam. Er breitet sich auch deshalb aus, weil sich der Staat seit Jahren aus bestimmten Bereichen zurückzieht und immer weniger Geld für sozial abgehängte Stadteile und Orte bereitsteht.

ZEIT ONLINE: Werden Integrationsprobleme auch in ihrer eigenen Partei verharmlost?

Wagenknecht: Ganz generell wird das Ansprechen von Integrationsproblemen schnell als rechtes Gerede hingestellt.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie?

Wagenknecht: Frau Merkel hat mit ihrer chaotischen Politik Überforderung und Angst erzeugt. Wenn man sie dafür kritisiert, dann wird oft gesagt, das sei AfD-Sprech. De facto hat Merkel im Bundestag neulich gesagt: Wer meine Politik kritisiert, macht die AfD stark. Das ist nicht nur arrogant, es ist auch grundfalsch. Man macht die AfD stark, indem man ihr die Kritik überlässt. Bei der AfD bekommt die Kritik dann eine ziemlich unverhüllt rassistische Note. Aber das ist nicht zwangsläufig die Intention ihrer Wähler. Die machen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz, um die Mieten, um radikalisierte Islamisten. Das alles sollte man nicht wegreden.

ZEIT ONLINE: Die Sorgen sind allerdings da am Größten, wo wenige Flüchtlinge sind, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. Da, wo Integration praktisch gelebt werden muss, ist die Ablehnung eher kleiner. Beweist das nicht, dass die Politik vor allem aufklären und für Integration werben muss?

Wagenknecht: Ich bin für Aufklärung, und natürlich darf man keine Ressentiments verstärken. Aber man muss natürlich auch sehen: In guten Gegenden werden sich Flüchtlinge keine Wohnung leisten können und Akademiker im höheren Lohnsegment müssen wenig Angst vor Lohnkonkurrenz haben. Wer im Niedriglohnsektor arbeitet, ist da in einer ganz anderen Situation. Die Politik setzt die Leute ungeschützt einer sich verschärfenden Konkurrenz aus.

ZEIT ONLINE: Sie klingen fast so, als könnten Sie die CSU-Forderungen nach Obergrenzen für Asylsuchende nachvollziehen.

Wagenknecht: Im Asylrecht kann es keine Obergrenze geben. Wer tatsächlich politisch verfolgt wird, muss Anspruch auf Asyl haben. Aber in der Flüchtlingspolitik darf es nicht darum gehen, möglichst viele Menschen nach Deutschland zu holen. Es muss darum gehen, Menschen in Not zu helfen. Die meisten Menschen in Not leben in den Nachbarregionen ihrer einstigen Heimat. Und dort werden sie sträflich alleingelassen. Die Flüchtlingswelle nach Deutschland hätte es in dieser Größenordnung vielleicht gar nicht gegeben, wenn man nicht vorher die Essensrationen in den Flüchtlingslagern halbiert hätte.

"Deutschland wird nicht in Syrien oder Afghanistan verteidigt"

ZEIT ONLINE: Gibt es in der Flüchtlingspolitik oder in anderen Politikfeldern Projekte, die die Linke gemeinsam mit SPD und Grünen angehen könnte, als Test für eine Regierungszusammenarbeit?

Wagenknecht: Ich biete doch ständig SPD-Politikern an, mit uns gemeinsam Projekte zu verabschieden! Nehmen sie die paritätische Finanzierung der Krankenkassenbeiträge anstelle der aktuellen Zusatzbeiträge, die ausschließlich Arbeitnehmer belasten. Die SPD wird das in ihr Wahlprogramm schreiben. Sie soll das doch einfach in einem Antrag im Bundestag einbringen, wir stimmen sofort zu, ohne Bedingungen. Das gleiche gilt für die Erhöhung des Rentenniveaus. Zusammen mit den Grünen hätten wir eine Mehrheit. Die SPD könnte schon jetzt viele ihrer Vorstellungen mit uns umsetzen, wenn sie es ernst meinen würde.

ZEIT ONLINE: Selten hatte ein Finanzminister so viel Geld wie heute. Reizt es Sie nicht, in einer Zeit der Vollbeschäftigung und hoher Steuereinnahmen zu regieren?

Wagenknecht: Vollbeschäftigung? Wir haben real immer noch drei Millionen Arbeitslose, eine Million Leiharbeiter und viele Aufstocker und Minijobber. Es gibt einen riesigen Niedriglohnsektor in Deutschland.

ZEIT ONLINE: Aber Sie hätten jetzt Spielräume, Geld umzuverteilen.

Wagenknecht: Aber wir brauchen Partner, die das Geld dann auch für die richtigen Projekte ausgeben wollen. Die SPD trägt ja beispielsweise den Unsinn von Frau Merkel mit, den Verteidigungsetat auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Wenn man für solchen Schwachsinn Geld rauswirft, hat man dann eben nicht genug für die wichtigen Dinge.

ZEIT ONLINE: Können Sie sich einen rot-rot-grünen Koalitionsvertrag vorstellen, in dem Auslandseinsätze der Bundeswehr weiter möglich sind?

Wagenknecht: Die Bundeswehr hat laut Grundgesetz eine Aufgabe: Das ist die Verteidigung. Deutschland wird aber nicht in Syrien oder Afghanistan verteidigt. Deshalb müssten wir bei Koalitionsverhandlungen über solche Einsätze reden. Für eine Beteiligung an Kampf- und Kriegseinsätzen wird es von uns sicher keine Unterstützung geben. Ich kann nicht erkennen, dass irgendetwas auf der Welt besser geworden wäre, seit wir unsere Soldaten in andere Länder schicken. Stattdessen muss man sehen, dass wir in Deutschland auch deshalb Ziel von Terroranschlägen werden, weil wir uns an solchen Kriegen mit Tausenden zivilen Toten beteiligen. Warum soll das so bleiben?

ZEIT ONLINE: Laut Parteiprogramm will die Linke die Nato abschaffen.

Wagenknecht: Wir wollen die Nato auflösen zugunsten eines kollektiven Sicherheitssystems, das Russland einschließt. Das hat übrigens auch die SPD in ihrem Berliner Programm vor einigen Jahren noch gefordert. Herr Gabriel müsste sich eigentlich nur auf seine eigene Tradition besinnen.

ZEIT ONLINE: Wenn man bei Grünen und bei der SPD fragt, was das Hindernis vor einer rot-rot-grünen Koalition ist, wird oft explizit Ihr Name genannt. Wie fühlen Sie sich in dieser Rolle?

Wagenknecht: Das hat ja schon eine Tradition. Schon bei Oskar Lafontaine hieß es: So lange der Fraktionsvorsitzender ist, kann man mit der Linken gar nichts machen. Danach haben sie sich halt einen neuen Namen ausgesucht.