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Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die Medien und die große Ratlosigkeit

Medien sind zur Nichtratlosigkeit verdammt, sie müssen alles sofort erklären. Ein Problem, das längst auch die Politik betrifft. Doch wer immer eine Erklärung in der Tasche braucht, der muss auch mal versagen.

Nach "Charlie Hebdo": Bestürzung, Trauer, Mitschmerz. Und Einordnung. Doch wenn ich ehrlich bin, bleibt es beim Versuch. Stattdessen: ein Gefühl der Verstörung. Es hängt direkt mit der medialen Abbildung zusammen. Mehr als irgendwo sonst gilt diesmal: Was wir über "Charlie Hebdo" wissen, wissen wir aus den Medien - redaktionellen und sozialen. Die enorme Solidarität war eindrucksvoll und wichtig und half sehr. Wenn aber über der Berichterstattung ein Motto stünde, wäre es: einer zutreffenden Deutung der Ereignisse auf der Spur oder gar der "Wahrheit". Es muss eine geben, weil es sonst immer eine gibt.

Das Nazi-Wort "Lügenpresse" wurde zum Unwort des Jahres gewählt. Gut so. Doch so gering die Selbstreflexion mancher Medien scheint, so groß scheint gleichzeitig ihre Selbstreferenzialität zu sein.

Wenn man wie ich in der freien "Lügenpresse" arbeitet, kann man über alles schreiben. Ich bin in genau vier Jahren bei SPIEGEL ONLINE natürlich redigiert, aber nie "zensiert" worden. Nur einmal bat jemand, eine wahrscheinlich justiziable Beleidigung gegen Johannes B. Kerner aus dem Text zu streichen. Es gibt schlimmere Schicksale.

Medien sind zur Nichtratlosigkeit verdammt

Ein einzelner blinder Fleck im Nachrichtengeschäft ist da aber, nicht nur für mich, sondern für alle: Man darf nicht ratlos sein. Niemals. Medien sind zur Nichtratlosigkeit verdammt und das merkt man. Es muss für alles Erklärungen geben, und wenn nicht, betreibt man Erwartungsmanagement: Noch sind die Hintergründe unklar. Als sei es nur eine Frage der Zeit, bis die Nachrichten endlich alles geklärt und durchbewertet haben. Nachrichten, das ist Welterklärung mit einer völlig unrealistischen hundertprozentigen Funktionsgarantie, wegen eines journalistischen Bannfluchs der Ratlosigkeit, wegen Erklärungssucht.

"Ich bin ratlos", 341 Treffer auf Google News, aber alles Zitate oder Ironie. Journalisten haben sich in die Rolle von Echtzeiterklärern drängen lassen, die Soforterklärung immer in der Tasche. Die Folge dieses Systems ist, dass man versagen muss. Oft. Und weil es extrem schwer ist, sich öffentlich mit eigenen Fehlern zu beschäftigen, geschieht das praktisch nur symbolisch. Nachrichten müssen Wahrheit und Deutung liefern, machen automatisch Fehler, doch bei den meisten Medien vermisse ich eine Fehlerkultur, die diesen Namen wirklich verdient.

"Lügenpresse" ist ein Symptom

Ja, "Lügenpresse" ist ein ekliges Wort, aber auch ein Symptom. Das hat nicht nur mit einer Online-Beschleunigung zu tun, denn es gibt wenig, was hektischer macht und gnadenloser wirkt als eine Print-Deadline. Das ganze gedruckte 20. Jahrhundert hindurch haben Zeitungsjournalisten an der Schwelle zum Herztod entlanggeschrieben. Es geht nicht ums Innehalten oder um Entschleunigung, es gibt eben Berufe, die schnelles Denken und Handeln erfordern. Innehalten ohne die richtige Haltung der Selbstreflexion ist ohnehin nur eine nachgespielte KitKat-Werbung.

Es geht eher um die vollständige Abwesenheit von einem der naheliegendsten Gefühle gegenüber einer riesigen, hyperkomplexen, supervernetzten Welt, die mir noch dazu ganz nah gerückt ist, bis in meine Jackentasche hinein. Eine Erklärungsmaschinerie ist entstanden, die ständig erklären muss. "Mit Bajonetten können Sie alles tun, nur nicht drauf sitzen, Sire", und in westlichen Medien kann man über alles berichten, aber Ratlosigkeit existiert darin nur als Pose, wenn überhaupt. Obwohl das - neben Schmerz, Mitgefühl, Trauer - doch die natürlichste Reaktion auf ein derartiges Attentat ist. Ein faschistoider, antisemitischer Terroranschlag im Namen einer Weltreligion, und sofort werden Erklärungen angeboten, weil das so sein muss. Aber ich bin ratlos. Aus sehr vielen Gründen, in sehr vielen Aspekten.

Noch während vier Juden starben, weil sie Juden waren, wurde vor Islamophobie gewarnt. Nicht, dass das kein Problem wäre, wie man an Pegida erkennen kann. Aber vielleicht hätte in genau diesem Moment der Respekt vor den Opfern geboten, vor Antisemitismus zu warnen. Wenige Stunden nach den Morden im koscheren Supermarkt hielt Glenn Greenwald es für eine gute Idee, widerwärtige antisemitische Zeichnungen zu veröffentlichen . Einfach wegen der Meinungsfreiheit. Wie geht man nun mit Greenwald um, dessen Funktion bei der Enthüllung der Totalüberwachung so wichtig war und ist?

Eigentlich gehört das unmittelbar in den Bereich meiner medialen Expertise, aber auch hier bin ich ratlos, weil ich Greenwald tendenziell ins Gesicht spucken möchte, aber seine Arbeit zu den Snowden-Dokumenten notwendig bleibt.

Nicht allein die Schuld von "denen da oben"

Bis zu 2000 Ermordete gab es bei einem Massaker der islamistischen Terrorarmee Boko Haram. Darüber ist vergleichsweise wenig berichtet worden, wohl, weil Paris das stärkere Symbol war. Oder weil afrikanische Leben weniger Nachrichtenwert mitbringen. Oder aus Zufall? Weil es zu wenig Infos gab? Oder weil auch Journalisten konzentrische Kreise der Relevanz um sich herum ziehen? Ratlosigkeit.

Vom Bann der Ratlosigkeit hat sich die ganze Gesellschaft anstecken lassen, insbesondere die Politik. Es sind diese beiden Berufsgruppen, die am allerwenigsten ratlos erscheinen dürfen: Medien und Politik. Ein tiefes Problem, und nicht allein die Schuld von "denen da oben". Wer würde eine Person wählen, die sagt: Wir sind ratlos, was solche Anschläge angeht, und wissen nicht, wie man sie verhindern kann, obwohl wir schon alles in Grund und Boden überwachen.

Bloß nicht ratlos erscheinen, sondern einordnen, Minuten nach den Ereignissen, ganz ganz genau Bescheid wissen und - fordern. Irgendwas, egal. Hauptsache, es wirkt, als wüsste man präzise, warum die Anschläge verübt wurden und wie also zukünftige Terrortaten zu verhindern sind. Die CSU fordert die Vorratsdatenspeicherung, das war vorhersehbar, das tut sie auch, wenn die Feuerwehr in Sowiesomaning eine entlaufene Katze nicht einfangen kann. Aber die Vorratsdatenspeicherung gibt es in Frankreich seit 2006 , "Argumente überwinden" wäre vielleicht ein guter neuer CSU-Parteislogan.

Die Terroristen standen längst auf den Beobachtungslisten

Innenpolitiker fordern mehr Überwachung, aber die Terroristen standen längst auf den Beobachtungslisten, den amerikanischen No-Fly-Listen. Sie waren auf den Servern vieler Behörden gespeichert. "Charlie Hebdo" hat so, außer dem Horror der islamistischen Ideologie, auch die vollkommene Ratlosigkeit des Überwachungsapparats entlarvt. Überwachte Islamisten schaffen es, ein paar Kalaschnikows und einen Raketenwerfer zu besorgen, und planen unter dem Radar der Überwachung hindurch einen Anschlag. Was nützt diese Überwachung?

Der deutsche Innenminister fordert mehr Wachsamkeit, aber wie soll die aussehen? Für die islamistischen Nachbarn abgegebene, AK47-förmige Pakete der Polizei melden? Deutlichstes Zeichen der um sich greifenden Ratlosigkeit ist der Aktionismus: etwas tun, egal was.

Wieder die CSU. Eben war sie noch Charlie, jetzt will sie aber schon härtere Strafen für Gotteslästerung . Des Attentats wegen. Kausalketten, wie schlecht vom "Postillon" ausgedacht.

Eine Gefahr der Ratlosigkeit: Ideologie hat immer eine Antwort, weil sie die unbeantworteten Fragen nicht mit Fakten füllt, sondern mit Überzeugung. Der gefährlichste Mann Mitteleuropas, David Cameron, möchte als Reaktion auf das "Charlie Hebdo"-Massaker Verschlüsselung verbieten . Nicht eingestandene Ratlosigkeit im Kampf gegen den Terror geht über in eine radikal antidemokratische, antiliberale Agenda. Und auch meine Ratlosigkeit wird ausgenutzt von denen, die so tun, als wären sie nicht ratlos.

Eine Schwäche der westlichen Medien wird ausgenutzt

Einer der Attentäter hat dem "Islamischen Staat" die ewige Treue geschworen. Die Propagandamaschinerie dieser Terrorgruppierung hat eine neue mediale Qualität. Das Attentat in London 2013, als im Mai zwei Islamisten einen zufällig ausgewählten Soldaten am helllichten Tag mit einem Fleischerbeil abschlachteten, in einer belebten Gegend, weil sie gefilmt werden wollten - das war eine Art Blaupause. Der IS nutzt in diesem Geist eine Schwäche der westlichen Medien aus. Der IS hat die Nachrichten gehackt: Er verbreitet über soziale Medien so fürchterliche Grausamkeiten, dass Medien oft einfach berichten müssen. Sie können - und wollen - nicht anders. Mann schneidet Kopf ab, "that's news".

Die Faszination des "Islamischen Staats", der weltweit offenbar Tausende junge Leute zu erliegen scheinen - wie sehr ist sie mediengemacht? Bei einer bestimmten Gruppe von islamismusanfälligen Personen wirkt die massenmediale Begleitwarnung vor den Greueltaten eher noch als Adelung. Die mittelalterliche Abwesenheit von zivilisatorischen Grundwerten trifft auf Warhols "15 minutes of fame", und es kommen Symbolmorde heraus.

Vielleicht trifft sogar die Bezeichnung Medienmorde; Inszenierungen, die ein Ziel verfolgen: Angst säen, Verhalten beeinflussen, Nachahmer anziehen, Radikalität und damit Einfachheit in einer komplexen Welt versprechen. Mohammed-Karikaturen = Todesstrafe. Simpler, radikaler geht es nicht. Und das westliche Mediensystem ist Teil des Prinzips, Teil dieser Form von Terrorismus. Natürlich ohne es zu wollen. Das Gehacktwerden und Ausgenutztwerden geschieht nicht freiwillig. Aber irgendwann muss man aus dieser Erkenntnis, dass Medien islamistische und offenbar hochwirksame Propaganda über Bande transportieren, Konsequenzen ziehen. Aber welche?

tl;dr

Die große Ratlosigkeit. Trotz medialer Erklärungssucht oder vielleicht auch genau deswegen.