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Fluh MH 17: Absturz über der Ost-Ukraine

Foto: DOMINIQUE FAGET / AFP

MH17-Chefermittler Westerbeke "Wissen die Russen womöglich mehr?"

Wer schoss Flug MH17 über der Ostukraine ab? Der niederländische Staatsanwalt Fred Westerbeke leitet die internationalen Ermittlungen. Er spricht über geheime Satellitenbilder und eine mögliche Beteiligung des ukrainischen Militärs.
Von Rainer Leurs

SPIEGEL ONLINE: Herr Westerbeke, Ihre Aufgabe als Chefankläger klingt kaum lösbar: Flug MH17 wurde über einem Bürgerkriegsgebiet abgeschossen, auch jetzt, drei Monate später, ist Ihr Tatort für Ermittler nicht zugänglich. Was gibt Ihnen Hoffnung, irgendwann jemanden vor Gericht bringen zu können?

Westerbeke: Die Niederlande ermitteln in dem Fall ja nicht alleine. Es gibt eine sehr gute Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft vor allem in Malaysia, Australien und der Ukraine. Wir haben übrigens bei ähnlichen Fällen viel Erfahrung sammeln können, im Zusammenhang mit dem Völkermord in Ruanda etwa oder mit Kriegsverbrechen in Afghanistan. Auch dort finden Sie kaum Zeugen, keine schriftlichen Dokumente, die man als Beweise nutzen könnte. Was also Ihre Frage angeht: Es ist nicht leicht. Aber wir können das schaffen.

SPIEGEL ONLINE: In welchem Zeitraum?

Westerbeke: Schauen Sie sich Lockerbie an…

SPIEGEL ONLINE: …den Bombenanschlag auf einen PanAm-Jumbo im Dezember 1988 mit 270 Toten.

Westerbeke: Damals hat es drei Jahre gedauert, bis man die Verantwortlichen benennen konnte. Damit meine ich nicht, dass es bei Flug MH17 genauso lange dauern wird, aber man braucht einen langen Atem. Wir werden sicher das ganze nächste Jahr für unsere Arbeit benötigen, und vielleicht noch länger.

Zur Person
Foto: Miquel Gonzalez

Fred Westerbeke, Jahrgang 1962, leitet bei der niederländischen Staatsanwaltschaft die Abteilung für Ermittlungen zu Terrorakten und organisiertem Verbrechen im In- und Ausland. Im Fall MH17 koordiniert er die strafrechtliche Aufarbeitung. Im Rahmen einer gemeinsamen Ermittlungskommission (JIT) sind daran auch Malaysia, Australien und die Ukraine beteiligt.

SPIEGEL ONLINE: Der Bundesnachrichtendienst BND geht davon aus, dass prorussische Separatisten die Maschine mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen haben. Kürzlich wurden einigen deutschen Parlamentariern entsprechende Satellitenbilder präsentiert. Kennen Sie diese Aufnahmen?

Westerbeke: Leider wissen wir nicht, um welche Bilder es dabei konkret ging. Das Problem ist, dass es sehr viele verschiedene Satellitenaufnahmen gibt: Einige davon findet man im Internet, andere stammen von ausländischen Geheimdiensten.

SPIEGEL ONLINE: Bilder in hoher Auflösung, etwa von US-Spionagesatelliten, könnten bei der Aufklärung des Falls eine entscheidende Rolle spielen. Haben Sie solche Aufnahmen von den Amerikanern bekommen?

Westerbeke: Wir sind nicht sicher, ob wir bereits alles haben, oder ob es mehr gibt - Material, das möglicherweise noch spezifischer ist. Was uns vorliegt, ist jedenfalls nicht genug, um daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir sind weiter in Kontakt mit den Vereinigten Staaten, um Satellitenbilder zu bekommen.

SPIEGEL ONLINE: Der Abschuss von Flug MH17 sei der größte Kriminalfall in der Geschichte Ihres Landes, heißt es. Wie viele Ermittler arbeiten momentan daran?

Westerbeke: Allein in den Niederlanden sind es zehn Staatsanwälte. Drei davon koordinieren die Ermittlungen, zwei arbeiten auf internationaler Ebene. Zwei weitere sind für die Betreuung der Angehörigen zuständig. Hinzu kommen Forensikexperten, außerdem rund 80 Polizisten. Regelmäßig gibt es Treffen mit den Kollegen aus Malaysia, Australien und der Ukraine, um die Arbeit aufzuteilen.

Chefermittler Westerbeke: "Wir brauchen Beweise"

Chefermittler Westerbeke: "Wir brauchen Beweise"

Foto: Miquel Gonzalez

SPIEGEL ONLINE: Weil an der Absturzstelle immer wieder gekämpft wird, war bislang keiner Ihrer Ermittler vor Ort, etwa um Trümmerteile einzusammeln. Das wäre aber wichtig, allein, um das verwendete Waffensystem zu bestimmen. Auf welche Spuren greifen Sie stattdessen zurück?

Westerbeke: Es gibt Metallfragmente, die in den Körpern der Todesopfer gefunden wurden und in Gepäckstücken. Das könnte Schrapnell von einer Buk-Rakete sein, womöglich auch Teile des Flugzeugs selbst. Wir analysieren das, bislang gibt es noch keine Ergebnisse. Zudem haben wir einige Zeugen gefunden, die unmittelbar nach dem Absturz vor Ort waren. Im Internet sichten wir eine immense Menge an Informationen, außerdem liegen uns diverse Aufnahmen von Telefongesprächen vor, die die ukrainische Polizei mitgeschnitten hat. Einiges davon ist bereits online verfügbar, wir haben allerdings umfangreicheres Material bekommen.

SPIEGEL ONLINE: Bislang gibt es also keine hieb- und stichfesten Beweise?

Westerbeke: Nein. Wenn man allerdings in die Zeitungen schaut, dann sieht es immer so aus, als wäre ganz klar, was mit dem Flugzeug passiert ist und wer daran die Schuld trägt. Wenn wir aber tatsächlich den oder die Täter vor Gericht bringen wollen, brauchen wir Beweise und mehr als ein mitgeschnittenes Telefonat aus dem Internet oder Fotos von der Absturzstelle. Deshalb ziehen wir nicht nur ein Szenario in Betracht, sondern mehrere.

SPIEGEL ONLINE: Welche Szenarien sind das?

Westerbeke: Anfangs haben wir für den Absturz von Flug MH17 vier mögliche Erklärungen in Betracht gezogen: Einen Unfall, einen Terroranschlag, den Abschuss durch eine Boden-Luft-Rakete oder einen Angriff durch ein anderes Flugzeug. Nach dem Erscheinen des Zwischenberichts durch den niederländischen Sicherheitsrat OVV...

SPIEGEL ONLINE: ...in dem der Absturz auf eine Vielzahl schnell fliegender Objekte zurückgeführt wird, die die Maschine von außen durchlöchert haben…

Westerbeke: …fallen das Unfall- und das Terrorszenario weg. Die beiden anderen bleiben übrig.

Westerbeke mit SPIEGEL-ONLINE-Redakteur Leurs in Amsterdam

Westerbeke mit SPIEGEL-ONLINE-Redakteur Leurs in Amsterdam

Foto: Miquel Gonzalez

SPIEGEL ONLINE: Moskau verbreitet seit einiger Zeit die Version, das Passagierflugzeug sei durch einen ukrainischen Kampfjet abgeschossen worden. Halten Sie das für möglich?

Westerbeke: Ausgehend von den vorliegenden Informationen ist der Abschuss durch eine Boden-Luft-Rakete in meinen Augen noch immer das wahrscheinlichste Szenario. Aber wir verschließen nicht die Augen vor der Möglichkeit, dass es anders gewesen sein könnte.

SPIEGEL ONLINE: Im Bericht des OVV heißt es, es seien keine Militärjets in der Nähe gewesen.

Westerbeke: Stimmt. Aber diese Aussage fußt auf Informationen, die dem OVV damals zur Verfügung standen. Die Frage ist doch: Wissen die Russen womöglich mehr?

SPIEGEL ONLINE: Ihr Premierminister Mark Rutte hat erst kürzlich Wladimir Putin wegen dessen mangelnder Unterstützung im Fall MH17 kritisiert. Welche Rolle spielt Russland bei den Ermittlungen?

Westerbeke: Im Moment keine große, da es nicht Teil des Ermittlungsteams ist. Wir bereiten gerade ein Rechtshilfeersuchen vor, in dem wir Moskau um Informationen bitten, die für uns wichtig sein könnten. Unter anderem auch jene Radardaten, mit denen die Russen nach dem Absturz die Anwesenheit eines ukrainischen Militärjets in der Nähe von MH17 beweisen wollten.

SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie tatsächlich die Beteiligung der ukrainischen Luftwaffe am Abschuss von Flug MH17 in Betracht ziehen - ist es dann nicht absurd, dass die Ukraine an den Ermittlungen beteiligt ist?

Westerbeke: Natürlich ist das ein Problem. Aber wir können nicht ohne sie ermitteln. Ich möchte übrigens eines klarstellen: Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass Kiew nicht absolut offen mit uns umgehen würde. Sie geben uns alle Informationen, die wir haben wollen.

Zehn niederländische Staatsanwälte suchen nach der Wahrheit über MH17

Zehn niederländische Staatsanwälte suchen nach der Wahrheit über MH17

Foto: Miquel Gonzalez

SPIEGEL ONLINE: In der Ost-Ukraine steht der Winter bevor. Besteht überhaupt die Chance, dass es Ihre Ermittler noch in diesem Jahr an die Absturzstelle schaffen?

Westerbeke: Im Moment glaube ich nicht recht daran. Es ist dort immer noch sehr gefährlich. Deshalb arbeiten wir mit dem OVV an einem Plan B - wenn wir nicht selbst zur Absturzstelle kommen, müssen wir die Trümmerteile eben auf andere Weise hierherbringen.

SPIEGEL ONLINE: Angenommen, es kommt eines Tages tatsächlich zum Prozess - wo würde der stattfinden?

Westerbeke: Mit einem möglichen Prozess befassen wir uns jetzt noch nicht. Wir wollen erst alle Ressourcen dazu aufwenden, den Verantwortlichen für dieses Verbrechen zu finden. Sollte man die Niederlande allerdings fragen, wären wir sicher bereit, den mutmaßlichen Tätern hier den Prozess zu machen.

SPIEGEL ONLINE: Unbekannte haben im Fall MH17 über einen deutschen Privatermittler 30 Millionen Dollar als Kopfgeld ausgeschrieben. Werden Sie ebenfalls eine Belohnung ausloben?

Westerbeke: So etwas wird in komplizierten Fällen immer öfter gemacht. Aber momentan haben wir nicht die Absicht, und es wird sicher niemals um 30 Millionen gehen. Ich warne übrigens jeden davor, mit diesen Leuten Geschäfte zu machen: Niemand weiß, wer sie sind und welche Absichten sie verfolgen.