Deutschland als Europameister?

Das Zerrbild von den Wahlen zum Europäischen Parlament

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Wer die Berichterstattung der deutschen Medien und die Deutungen der staatstragenden Parteien hierzulande für bare Münze hält, kommt zu dem Eindruck, bei den Europawahlen habe - trotz bedauerlicher Teilerfolge der "Antieuropäer" und "Rechtspopulisten" - insgesamt denn doch ein Sieg des "Einheitsgedankens" und der "Demokratie" stattgefunden. Bei diesem Bild handelt es sich um eine propagandistische Täuschung, herbeigeführt durch nationaldeutsche Blickverengung.

ARD und ZDF stellten die bundesrepublikanischen Ergebnisse ins Zentrum: Relativ hohe Wahlbeteiligung, absolute Mehrheit für die "überzeugt europäischen" deutschen Parteien, kein sensationeller Ertrag für die "antieuropäische" AfD, Stagnation der EU-"skeptischen" Partei Die Linke. Und der SPD-Vorsitzende jubelte seinem europäischen Spitzenkandidaten zu: "Jetzt ist Schulz" wurde verkündet, Angela Merkel müsse nun diesen "Sieger" zum EU-Kommissionspräsidenten machen.

Das war voreilig, denn europaweit liegt der Parteienblock, zu dem die CDU/CSU gehört, vor dem sozialdemokratischen; im zweitwichtigsten Staat der EU hat die Partnerpartei der SPD eine herbe Niederlage hinnehmen müssen.

Die ungenierte nationaldeutsche Sichtweise beim Umgang mit den Europawahlen, wie sie das deutsche Establishment praktiziert, täuscht über Realitäten hinweg: Erstens hat die niedrige Beteiligung an der Wahl, gesamteuropäisch betrachtet, die Legitimation des Europaparlaments weiter geschwächt. Dass sie in der Bundesrepublik etwas anstieg und die SPD sich dabei verbessern konnte, lässt sich als Effekt eines problematischen nationalen Gefühls interpretieren: Schulz, so hatte ihn die SPD angepriesen, sei der einzige deutsche Favorit für den Chefposten bei der EU-Kommission.

Zweitens hatten in fast allen Mitgliedsstaaten der EU jene Parteien Stimmengewinn, die kritisch auftraten gegenüber der gegenwärtigen Politik der EU-Institutionen. Das politische Spektrum ist hier vielgestaltig; keineswegs ist es in Gänze als "europafeindlich" abzuqualifizieren, auch nicht durchweg als rechtsextrem oder faschistisch. In manchen europäischen Ländern wächst der Unmut über deutsche Arroganz, die jede Opposition gegen die herrschende Linie in der EU-Politik als "antieuropäisch" verteufelt.

Drittens werden für eine Mehrheitsbildung in der "Mitte" des Europäischen Parlaments, also das liberalkonservativ-sozialdemokratisch-grüne Bündnis, wie es durch die stärker gewordenen EU-Kritiker noch mehr zusammengedrängt ist, die daran beteiligten Abgeordneten aus der Bundesrepublik noch an Bedeutung gewinnen. Dies wird in anderen Ländern längst vorhandene Antipathien gegen "deutsche Vorherrschaft" weiter steigern. Der Verdacht wird expandieren, dass die politische Ökonomie der EU vorrangig dem wirtschaftlichen Eigeninteresse der Bundesrepublik diene.

Der zu vermutende Trend: Die Opposition gegen die jetzige EU-Politik außerhalb der Bundesrepublik, in Deutschland pauschal als "europafeindlich" abgewertet, lädt sich noch mehr "antideutsch" auf. Der angebliche Erfolg der "Europafreunde" hierzulande stellt sich dann als Fiasko heraus.

Kein Grund zum Jubeln also - jedenfalls dann nicht, wenn Europapolitik der Verständigung zwischen den Gesellschaften im europäischen Terrain förderlich sein soll.