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Polizisten führen einen Asylbewerber ab.

© dpa

Migration: Wenn alle Grenzen offen wären

Wer darf rein, wer muss draußen bleiben? Das war die alte Frage in der Migrationspolitik. Sie passt aber nicht mehr für heute.

Donnerstag der vergangenen Woche: Der Bundestag beschließt am Abend den Doppelpass für die Kinder und Enkel der ersten Einwanderergeneration. Ihnen selbst soll die doppelte Staatsbürgerschaft weiter vorenthalten bleiben. Zuvor hat das Parlament drei Balkanstaaten als „sichere Herkunftsländer“ definiert und damit den De-facto-Ausschluss von Roma vom Asyl besiegelt, der am stärksten diskriminierten Minderheit Europas. Ein paar Kilometer vom Bundestag entfernt wird am selben Tag das Drama um die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule vorerst beigelegt. Zehn Tage lang glich der von etwa tausend Polizisten abgeriegelte Kiez einem Bürgerkriegsgebiet – weil 40 Flüchtlinge bleiben wollten.

Wer gehört "zu uns"?

Seit Jahrzehnten bewegt sich die Debatte um Einwanderung nicht weg von dieser einen Frage: Wer darf ins Land, wer gehört „zu uns“, wer nicht? Mit der Durchsetzung von Drinnen und Draußen sind teure Bürokratien beschäftigt, die ebenfalls nicht eben billige EU-Grenzschutzagentur Frontex und Polizisten, die mit der Bekämpfung von Kriminalität und Gewalt durchaus genug zu tun hätten. Und vor allem ist die Abwehr derer, die nach Europa wollen, tödlich: Im Mittelmeer sind in den vergangenen 25 Jahren mindestens 20000 Menschen auf der Flucht verdurstet oder ertrunken. Aber sie schädigt auch die Freiheit der Staatsbürger – wer sich Ehefrau oder -mann im Nicht-EU-Ausland sucht, riskiert oft ein staatlich eingeschränktes Ehe- und Familienleben.

Was wäre, wenn alle Grenzen offen wären? Das ist längst keine exotische Frage mehr, sie wird, links wie rechts diskutiert. Die fast einmütige Antwort; Es wäre gar nicht so viel anders. Schon jetzt, sagt etwa der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar, verhindert der Ausbau Europas zur Festung die Einwanderung nicht, er drängt Menschen nur in die Illegalität. Und zwar welche, die der Traum aller Wirtschaftspolitik sein müssten: jung, gesund, entschlossen, sich durchzubeißen – andere würden den lebensgefährlichen Weg überhaupt nicht schaffen.

Die wirklich Armen wandern nur regional

Und es sind meist solche mit gewissen kulturellen und finanziellen Ressourcen: „Die Ärmsten der Armen können nur regional migrieren“, sagt die Kulturanthropologin Sabine Hess, die an der Universität Göttingen Grenzregime erforscht. Außerdem zöge es weltweit mehr Auswanderer nach anderswo, in die Boomstaaten Lateinamerikas oder die Ölländer. „Nur ein verschwindend geringer Anteil kommt nach Europa.“

Möglich, dass dies längst auch Politik und Behörden wissen – stillschweigend. Nach Ansicht von Christina Boswell, Migrationsexpertin von der Universität Edinburgh, ist die Praxis der Migrationskontrolle deutlich liberaler als die Rhetorik. Das laute und dauernde Reden darüber, dass man möglichst jedes Schlupfloch schließen müsse, wirke sich aber verheerend für den Blick auf Einwanderer aus, die pauschal als Eindringlinge abgewertet würden.

Da, wo sich Abschottung durchsetzen lässt, kann sie im Übrigen gegenteilige Effekte erzeugen: Der deutsche Anwerbestopp 1973 zwang genau die zum Bleiben in Deutschland, die bisher Pendler zwischen alter und neuer Heimat waren.

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