Flugzeugunglück in Südfrankreich Viele offene Fragen - und eine Theorie

Flugzeugunglück in Südfrankreich: Viele offene Fragen - und eine Theorie
Foto: Bea/ dpaDie Lösung des Rätsels um den Absturz des Germanwings-Flugzeugs in Südfrankreich rückt näher: Der erste Flugschreiber wurde geborgen und soll nun in Paris untersucht werden. Bei dem Gerät handelt es sich um den Cockpit Voice Recorder (CVR), der Geräusche und Gespräche im Cockpit aufzeichnet. Sollten die Daten verwertbar sein, könnten sie einiges darüber verraten, wie es zum Absturz des Airbus A320 kam.
Doch auch die bereits verfügbaren Daten erlauben es, zumindest Theorien zu einigen besonders rätselhaften Details zu entwickeln.
1. Hat die Besatzung den Sinkflug bewusst eingeleitet?
Aller Wahrscheinlichkeit nach: ja. "Es ist kaum denkbar, dass ein komplexer technischer Defekt dazu führt", erklärt Oliver Lehmann, Professor für Flugführung und Luftverkehr an der Technischen Universität Berlin. Deshalb sei davon auszugehen, dass es ein schwerwiegendes Problem an Bord gab. Dafür spricht auch, dass es sich laut den Daten um einen zwar zügigen, aber kontrollierten Sinkflug mit einer Geschwindigkeit von etwa 2500 und 5000 Fuß (rund 800 bis 1500 Meter) pro Minute gehandelt hat. Das könnte für einen sogenannten "open descent" sprechen: Der Autopilot erhält von der Crew eine neue Zielhöhe und leitet den Sinkflug ein, indem er die Triebwerke auf Leerlauf schaltet.

2. Warum hat die Crew keinen Flughafen angesteuert?
Die Flugdaten zeigen, dass der Sinkflug bereits über der Mittelmeerküste begann. Es wären also mehrere große Flughäfen in der Nähe gewesen, etwa Marseille, Toulon, Cannes oder Nizza. Warum das Flugzeug dennoch geradewegs ins Gebirge geflogen ist, kann bisher nicht beantwortet werden. Hier könnte der gefundene Stimmenrekorder wertvolle Anhaltspunkte liefern.
3. Hat die Besatzung schon früh die Kontrolle über die Maschine verloren?
Dafür sprechen einige Details. Denn obwohl die Besatzung den Sinkflug wohl noch bewusst eingeleitet hat, hat sie ihn nicht wie üblich bei der Flugsicherung beantragt. In Notfällen lautet für Piloten die Regel "aviate - navigate - communicate": Zuerst muss das Flugzeug in eine sichere Lage gebracht werden, an zweiter Stelle kommt die Navigation und erst an dritter die Kommunikation. Eine plötzlich eintretende Notlage könnte also erklären, warum es zwischen Besatzung und Bodenkontrolle nach Beginn des Sinkflugs keinen Funkverkehr mehr gab.
Nach dem Beginn des Sinkflugs hielt die Maschine zudem exakt ihren vorgegebenen Kurs. "Auch das deutet darauf hin, dass der Autopilot eingeschaltet war", sagt Lehmann. "Bei einem rein manuellen Flug hätte es leichte Kursabweichungen gegeben." Der Experte hält deshalb ein Szenario für denkbar, das auch schon in Piloten-Internetforen ins Spiel gebracht wurde: Es könnte im Flugzeug zu einem plötzlichen Druckabfall gekommen sein.

Absturz von Germanwings-Airbus: Einsatz in den französischen Alpen
In Pilotenforen im Internet wurde am Mittwoch intensiv die Frage diskutiert, ob dies möglicherweise durch eine gebrochene Windschutzscheibe ausgelöst worden sein könnte. Der Airbus befand sich vor Beginn des Sinkflugs auf einer Höhe von 38.000 Fuß (ca. 11.500 Meter). Kommt es in der Kabine zum plötzlichen Druckverlust, bleiben der Besatzung nach Angaben der US-Flugsicherheitsbehörde FAA nur 30 bis 60 Sekunden bis zum Bewusstseinsverlust. Zudem kann eine explosive Dekompression zu heftigen körperlichen Reaktionen wie Schmerzen in den Ohren und Nebenhöhlen führen und eine Dekompressionskrankheit auslösen. Auch könnten Splitter der Windschutzscheibe die Piloten schwer verletzt oder gar getötet haben.
Ein Experte der Luftwaffe sagte SPIEGEL ONLINE, ein solcher Vorfall sei möglich und werde bei der Ausbildung und regelmäßigen Trainings auch für zivile Piloten immer wieder geübt. Dabei gebe es einen klaren Drill: Zunächst würden die Piloten bei einer gebrochenen Scheibe die Notfall-Sauerstoffmasken aufziehen, dann einen kontrollierten Sinkflug auf etwa 10.000 Fuß einleiten und umgehend ein Notruf-Signal absetzen.
Allerdings bleibt auch hier offen, warum die Besatzung offenbar noch einen kontrollierten Sinkflug einleiten konnte, das Flugzeug dann aber auf weit unterhalb von 10.000 Fuß sank, nahezu ungebremst aufprallte und es während des rund zehnminütigen Sinkflugs keine von außen erkennbaren Gegenmaßnahmen gab. "Hinweise auf einen Druckabfall könnte man auch schon durch die Untersuchung des Wracks bekommen", so Lehmann. "Bei einem Druckverlust müssten in der Kabine automatisch die Sauerstoffmasken aus der Decke gefallen sein."
4. Könnte eine Fehlfunktion des Autopiloten das Unglück ausgelöst haben?
Das erscheint eher unwahrscheinlich. Der Autopilot gehört zu den Systemen, deren Stromzufuhr sich abschalten lässt. Auf diese Weise gelang es etwa den Piloten eines Airbus A321 im November 2014, einen Absturz zu verhindern. "Welche Rolle der Autopilot gespielt hat, wird sich aber erst nach der Auswertung der Flugschreiber beantworten lassen", so Lehmann.
5. Was können die Black Boxes über den Unfallhergang verraten?
Passagierflugzeuge sind mit einem Flugschreiber, dem Flight Data Recorder (FDR), und einem Stimmenrekorder, dem Cockpit Voice Recorder (CVR) ausgerüstet. Der Flugschreiber zeichnet zahlreiche technische Daten auf - darunter die Geschwindigkeit, Außendruck, Flughöhe, Flugrichtung, Beschleunigungswerte, die Position des Steuerknüppels und der Ruderpedale sowie den Treibstofffluss. Dieser wurde noch nicht gefunden. Der Sprachrekorder nimmt zusätzlich alle Geräusche aus dem Cockpit auf - also neben den Gesprächen der Besatzung auch Alarmtöne und den Klang der Triebwerke. Er wurde bereits geborgen und wird nun in Paris untersucht.
6. Können die Black Boxes einen solchen Absturz überstehen?
Das ist durchaus möglich, da beide Geräte in extrem robusten Gehäusen untergebracht sind. "Selbst wenn die Außenhüllen und die Schnittstellen zerstört sind, lassen sich aus den Speichermodulen möglicherweise noch Daten auslesen", sagt Lehmann. Allerdings gibt er zu bedenken, dass der Aufprall des Airbus in Südfrankreich extrem heftig war: Die Maschine ist laut den Flugdaten mit fast 800 km/h in eine Felswand eingeschlagen, also nahezu mit der Geschwindigkeit einer Pistolenkugel. Deshalb sind am Unglücksort auch fast nur kleinformatige Trümmerteile zu sehen.
7. Könnte das Alter des Flugzeugs eine Rolle beim Unfall gespielt haben?
Der verunglückte Airbus A320 war 24 Jahre alt, doch das Alter von Verkehrsflugzeugen gilt als nicht sicherheitsrelevant. Theoretisch verfügt ein Flugzeug sogar über eine unbegrenzte Lebensdauer - vorausgesetzt, es wird ordentlich gewartet. "Und ich bin fest davon überzeugt, dass Germanwings an dieser Stelle keine Defizite hat", sagt Lehmann. Ob ein altes Flugzeug durch ein neues ersetzt wird, ist für eine Fluglinie in erster Linie eine wirtschaftliche Entscheidung: Eine neue Maschine kostet zwar Geld, fliegt aber meist auch sparsamer.
Mitarbeit: Matthias Gebauer