Der Mann hinter den Mördern – Seite 1

Ein Mann mit Vollbart sitzt am Steuer eines Pickup-Trucks. Er schaut lachend aus dem Seitenfenster. An die Ladefläche des Trucks hat jemand ein Seil gebunden, an dem Seil hängen verstümmelte Leichen. "Früher", sagt der Mann in die Kamera, "habe ich einen Jetski transportiert oder ein Motorcrossrad. Nun aber, auf Allahs Wegen, schleppe ich Leichen von Ungläubigen hinter mir her." Dann gibt der Mann Gas. Die toten Körper schleifen über den Boden.

Die Szene stammt aus einem Propaganda-Video des "Islamischen Staates" (IS), veröffentlicht im März 2014, gedreht an einem Ort namens Hraytan in der Nähe von Aleppo im Norden Syriens. Der Mann in dem Video ist einer der meistgesuchten islamistischen Terroristen Europas: Abdelhamid Abaaoud, ein 28 Jahre Jahre alter Belgier, von dem die Ermittler vermuten, er sei der Drahtzieher der jüngsten Anschläge von Paris gewesen. Die französische Staatsanwaltschaft hat bestätigt, dass Abaaoud am Mittwochmorgen bei der Razzia im Pariser Stadtteil Saint Denis getötet wurde.

Wer ist Abdelhamid Abaaoud?

Wer das herausfinden will, der kann in den Westen von Brüssel schauen, in den Stadtteil Sint-Jans-Molenbeek. Dort wuchs Abaaoud auf, wie viele andere Islamisten. Hier fand er Freunde, darunter Bahim Abdeslam, der sich im Pariser Café Comptoir Voltaire in die Luft sprengte. Man kann sich IS-Propaganda-Videos anschauen, in denen Abaaoud als Kämpfer auftritt, hinter Sandsäcken liegend, im Hintergrund hört man Schüsse. Mit ruhiger Stimme sagt er da: "Ich bete, dass Allah diejenigen vernichtet, die sich ihm widersetzen." Man kann auch die Interviews lesen, die er englisch- und französischsprachigen Magazinen des IS gab und in denen Abaaoud die europäischen Sicherheitsbehörden verhöhnt, die ihn bisher nicht daran hindern konnten, unerkannt durch Europa zu reisen.

Oder man hört Alain Grignard zu.

Grignard ist Polizist. Kaum jemand kennt die belgische Islamistenszene besser als er. Schon 1985 war Grignard der erste Teamleiter der neu gegründeten Brüsseler Anti-Terror-Einheit. An der Universität Lüttich lehrt er politischen Islam. Seit 2005 führt Grignard Ermittlungen gegen militante Islamisten, im gleichen Jahr hob er eine Zelle rund um eine belgische Selbstmordattentäterin im Irak aus. Er ermittelte auch über das Attentat auf das Jüdische Museum in Brüssel 2014. Schließlich war er am Einsatz gegen eine islamistische Terrorgruppe in Verviers im Januar 2015 beteiligt. Die Polizei verhinderte damals eine Anschlagsserie, an der auch Abaaoud beteiligt war.

Grignard sagt: "Wir haben es zu tun mit Leuten, die sich am besten als 'islamisierte Radikale' beschreiben lassen. Diese jungen Muslime aus den Großstädten von Belgien, Frankreich und anderen europäischen Ländern, die dem IS beigetreten sind, waren schon radikal, bevor sie religiös wurden. Viele waren wichtige Mitglieder von Straßengangs. Der IS legitimiert nun ihr Straßengewalt-Credo."

Ein Jahr katholische Schule

Abdelhamid Abaaoud war – so viel lässt sich aus den wenigen Schilderungen seiner Jugend lesen – ein Kind der Straße. Der Vater war aus Marokko nach Belgien gekommen und hatte sich einen kleinen Klamottenladen in Molenbeek aufgebaut. Reich wird man damit nicht, zumal wenn vier Kinder zu versorgen sind. Die Familie Abaaoud lebte in ärmlichen Verhältnissen in einer Wohnung in der Rue de l’avenir unweit des Marktplatzes von Molenbeek, gleich neben der Polizeistation.

Dennoch boten sich Abaaoud Aufstiegschancen. Die Eltern schickten ihn auf eine gute Schule: Das katholische Collège Saint-Pierre d’Uccle in der Rue du Doyenné, 1905 gegründet, ein lang gestreckter Backsteinbau in einem gutsituierten Viertel der Stadt. Der Direktor des Collège, Georges Tremouroux, will sich zu seinem früheren Schüler nicht äußern. Doch offenbar fand Abaooud als Schüler keinen Anschluss an die belgische Mehrheitsgesellschaft. Die New York Times will erfahren haben, dass Abaaoud nur ein Jahr an der Schule blieb und dann plötzlich verschwand.

Hass auf Polizei und Staat

In den folgenden Jahren geriet Abaaoud in Konflikt mit dem Staat. Mehrfach wurde er wegen diverser Kleindelikte von der Polizei verfolgt. Seine Schwester erzählte dem Brüsseler Standaard, ihr Bruder habe Polizisten gehasst. Seit seiner Pubertät habe er Probleme mit Beamten gehabt. Er sei festgenommen worden wegen Schlägereien, Trunkenheit, solchen Dingen. Manchmal habe er sich geweigert, den Polizeibeamten seinen Ausweis zu zeigen.

Die Schwester berichtet auch, Abaaoud habe erzählt, er sei von Polizisten misshandelt worden. Mehrmals hätten sie ihn nach Festnahmen auf der Wache mit Schlagstöcken und Telefonbüchern geschlagen. Kann man solchen Vorwürfen glauben? Jedenfalls entstand in jener Zeit wohl sein Hass auf den Staat.

Dieser Hass, so scheint es, war älter als Abaaouds religiöser Fanatismus. Seine Schwester sagt: "In den Gefängnissen von Vorst und Sint-Gillis, wo er vor einiger Zeit einsaß, hat er sich radikalisiert. Viel mehr als auf der Straße." 2010 war Abaaoud wegen eines bewaffneten Überfalls zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Im Gefängnis traf er einen weiteren mutmaßlichen Attentäter von Paris: Salah Abdeslam.

Kontakte zur belgischen islamistischen Szene

Der Terrorexperte Grignard kennt diese Muster. Die Botschaft der islamistischen Rekrutierer in den Gefängnissen sei: "Du hast keine andere Möglichkeit als kriminell zu werden, weil du Teil einer von der Gesellschaft diskriminierten Gruppe bist. Du verteidigst lediglich dich selbst." Der Psychoanalytiker Arno Gruen erklärt den psychologischen Mechanismus, der sich oft dahinter verbirgt. Die tödliche Motivation, die Männer wie Abaaoud antreibt, komme ursprünglich nicht aus der Ideologie. Sie solle vielmehr die wahren Antriebskräfte verschleiern, die aus einem Gefühl der Schwäche herrühren. "Ideologie ist niemals selbst Motivation", schreibt Gruen. Aber sie weckt ein Gefühl von Omnipotenz. "Und in Syrien finden sie sich dann in einem realen Videospiel wieder", sagt Grignard. "Wie in Europa wird hier Respekt mit Angst gleichgesetzt. Wenn dir jemand im Weg steht, schießt du ihm einfach eine Kugel in den Kopf."

Aus dem Gefängnis entlassen, knüpfte Abaaoud schnell Kontakte zur belgischen Islamistenszene. Es ist die Zeit, in der er erstmals junge Muslime für den Kampf des IS in Syrien und im Irak angeworben haben soll. Schon damals ist Belgien eines der wichtigsten Rekrutierungsländer in Europa – eine Entwicklung, die sich noch verschärft hat.

Der Islamexperte Peter van Ostaeyen schätzt, dass die Zahl der belgischen IS-Kämpfer mittlerweile weit mehr als 500 beträgt. Die Zahl ist zwar halb so hoch wie im Nachbarland Frankreich. Aber gemessen an der Größe des 11-Millionen-Einwohner-Landes Belgien ist sie hoch. In Belgien leben derzeit 640.000 Muslime. Rein statistisch ist also einer von 1.260 Muslimen in Belgien als Kämpfer in Syrien oder im Irak aktiv, rechnet van Ostaeyen vor. Aus keinem anderen westeuropäischen Land zogen, im Verhältnis zur Bevölkerung, so viele in den Dschihad.

Reise nach Syrien

Abaaoud wurde einer von ihnen. Wann genau er nach Syrien ging, ist unklar, vermutlich irgendwann im Jahr 2013. Dort nannte er sich Abu Omar al-Baljiki und stieg schnell in der Hierarchie des IS auf. Die New York Times berichtet, Abaaoud werde verdächtigt, eine IS-Einheit namens Katibat al-Battar al Libi anzuführen. Sie hat ihren Ursprung in Libyen. Viele belgische Islamisten werden vom libyschen Ableger des IS angezogen, weil sie marokkanischer Abstammung sind und in Libyen ein arabischer Dialekt gesprochen wird, der jenem in Marokko ähnlich ist. Eine Aufgabe des libyschen Zweiges ist es, Anschläge zu organisieren, die von Syrienkämpfern und sogenannten islamistischen Schläfern in Europa ausgeführt und von einem Anführer aus der mittleren Führungsetage des IS aus Syrien gesteuert werden.

Abaaoud könnte ein solcher Führer sein. Immer wieder taucht sein Name in Zusammenhang mit anderen Terroranschlägen auf. So soll er mit Mehdi Nemmouche in Verbindung gestanden haben, der im Mai 2014 das jüdische Museum in Brüssel angegriffen hatte. Belegt ist laut Le Monde, dass die beiden im Januar zuvor telefonischen Kontakt hatten. Abaaoud soll auch beteiligt gewesen sein am Anschlag auf eine Kirche im französischen Villejuif südlich von Paris im April dieses Jahres. Genauso wie am missglückten Attentat auf den Hochgeschwindigkeitszug Thalys im August.

Sein Name taucht auch während der Ermittlungen zu einem vereitelten Anschlag in Paris auf. Am 11. August nahm die französische Polizei nach einem Hinweis der spanischen Justiz einen Mann namens Reda Hame fest. Der Mann legte ein Geständnis ab. Er habe sich noch im Mai in einem IS-Trainingslager im syrischen Rakka aufgehalten. Während des Trainings habe er sich verletzt und sei von IS-Kadern vor die Wahl gestellt worden, in Frankreich ein Attentat zu begehen oder gleich getötet zu werden. Le Monde berichtet, Abaaoud habe Hame beauftragt, ein Rockkonzert zu attackieren, um möglichst viele Menschen zu töten. Hame bekam demnach von Abaaoud einen USB-Stick mit Verschlüsselungssoftware und 2.000 Euro mit auf den Weg.

Ein größerer Plan?

Alle diese Fälle waren Taten Einzelner. In der Rückschau aber wirken sie wie Vorboten eines größeren Plans, den Abaaoud verfolgte: Den Anschlag einer ganzen Terrorgruppe mitten in Europa. Dieser Plan ist mit zwei Städten verbunden: Paris und Verviers. Was in der belgischen Kleinstadt im Januar 2015 scheiterte, könnte Abaaoud und seinen Kumpanen als Folie für die Anschläge vom 13. November gedient haben.

"Es kostete die Terroristen nur eine Sekunde, um ihre Plauderei zu beenden und das Feuer zu eröffnen." So beschreibt der Anti-Terror-Spezialist Grignard, was am 15. Januar in einem unauffälligen Haus in Verviers geschah, als Spezialkräfte der belgischen Polizei drei mutmaßliche Terroristen festnehmen wollten. "Diese Kerle hatten vermutlich mehr Erfahrung in solchen Feuergefechten als unsere eigenen Kommandos." Zwei Männer wurden während der Schießerei getötet: Sofiane Amghar, 26 Jahre alt, und Khalid Ben Larbi, 23. Beide waren Jugendfreunde von Abaaoud. Er selbst war während des Gefechts nicht in dem Haus, auch wenn er das später in seinen Propaganda-Interviews suggerierte.

Oft wurde berichtet, die Terroristen hätten sich als Polizisten verkleiden und ein Kommissariat stürmen wollen. Grignard zeichnet jedoch ein viel bedrohlicheres Bild. Er sagt, der Eindruck der belgischen Polizei sei, die Gruppe sei direkt von der Führung des IS geschickt worden, um Belgien anzugreifen. Die Ermittler fanden ein großes Waffenlager und Chemikalien, aus denen der Sprengstoff TATP hergestellt werden kann. Diesen Sprengstoff verwendeten auch die Attentäter von Paris in ihren Selbstmordwesten. "Alles das deutet darauf hin, dass sie einen terroristischen Feldzug durch Belgien vorbereiteten, der viel weiter gehen sollte als ein einfache Attacke auf die Polizei", sagt Grignard.

Abaaoud verschwand vermutlich wieder nach Syrien

Vor dem Zugriff in Verviers waren die Ermittler der Gruppe auf der Spur gewesen. Zwischen Weihnachten 2014 und Neujahr 2015 hatten sie Telefonate von Abaaoud abgefangen. Er hatte offenbar über den inhaftierten Bruder eines der später Getöteten mit der Gruppe kommuniziert. Die Ermittler identifizierten eine griechische Sim-Karte. Die Spur führte sie nach Athen. Noch bevor das Haus in Verviers gestürmt wurde, versuchten Antiterror-Einheiten in Athen, Abaaoud zu schnappen. Sie durchsuchten zwei Wohnungen und nahmen zwei Verdächtige fest. Abaaoud war jedoch nicht darunter. Er verschwand spurlos, vermutlich Richtung Syrien. Den Ermittlern blieben lediglich ein Laptop und sein Handy. 

Es war nicht das erste Mal, dass Abaaoud den Behörden durch die Lappen ging. 2014 soll er schon einmal aus Syrien nach Brüssel zurückgekehrt sein. Damals nahm er seinen jüngeren Bruder Younus mit in den Heiligen Krieg. Der Junge war 13 Jahre alt. Später tauchten Fotos auf, die Younus zeigen, wie er mit einem Schnellfeuergewehr posiert. Der jüngste Dschihadist Belgiens, so nannten belgische Zeitungen den Teenager.

In Abwesenheit verurteilt

Im Juli 2015 kam es in Brüssel zu einem spektakulären Prozess gegen die filière syrienne, den Syrien-Ring, ein Netzwerk aus Rekrutierern und Syrienkämpfern. Insgesamt 31 Personen waren angeklagt, auch Abaaoud. In Abwesenheit wurde er zu 20 Jahren Haft verurteilt, zwei weitere Syrienkämpfer erhielten die gleiche Strafe, zwei andere acht Jahre. Gefasst wurde er bis heute nicht.

Verurteilt wurde auch der Weihnachtsmann. So nennen die Menschen in Molenbeek Khalid Zerkani, einen islamistischer Prediger, weil er kahl ist und einen langen Bart trägt. Er ist der Spiritus Rector der Kämpferszene in der Hauptstadt. Lief er durch die Straßen, umgab ihn stets eine Gruppe jüngerer Anhänger, berichtet der Standaard. Nachbarn hätten ihren Kindern verboten, in seine Nähe zu kommen, weil sie fürchteten, er könne sie rekrutieren. Zerkani war sehr geschickt darin, sein eigentliches Tun zu verschleiern. Er benutzte keine sozialen Medien und telefonierte auch nur selten. Schließlich konnte ein verdeckter Ermittler Beweise liefern, wegen derer er zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde.

Der Brüsseler Generalstaatsanwalt Bernard Michel sagte während des anschließenden Prozesses an die abwesenden Angeklagten und alle Syrienkämpfer gerichtet, er hoffe, das sie nie mehr nach Europa zurückkehrten: "Sie spucken auf die Demokratie und unser Zusammenleben, sei es in Belgien oder in Syrien."

Sein Wunsch ist auf schreckliche Weise unerfüllt geblieben.