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Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Unter dieser Frau kein Anschluss

Glasfaseranschlüsse von Haushalten in Europa: Deutschland auf dem letzten Platz. Internet-Wissen der Bürger in Europa: Deutschland auf dem letzten Platz. Das digitale Versagen hat einen Namen: Angela Merkel.
Merkel mit Tablet auf CDU-Parteitag: Versagen in der Digitalpolitik

Merkel mit Tablet auf CDU-Parteitag: Versagen in der Digitalpolitik

Foto: Sean Gallup/ Getty Images

Angela Merkel hat in ihrer Rede auf dem CDU-Parteitag einen bemerkenswerten Satz gesagt: "Wir müssen diejenigen sein, die die digitalen Chancen ergreifen und trotzdem die Würde des Menschen bewahren."

Wenn man Unverschämtheit in Energie umwandeln könnte, ließen sich allein mit diesem Satz die Polkappen drei Winter lang eisfrei halten. Denn Angela Merkel ist aus fast jeder Perspektive eine Katastrophe für das digitale Deutschland. Und ihre jeweiligen Koalitionspartner SPD und FDP waren und sind zu schwach oder zu unwillig, um diesen ungebremsten Sturz ins Digitaldebakel zu verhindern.

Immerhin können sich Freunde des Internet damit trösten, dass Merkels Politik nicht ausschließlich gegen das Netz gerichtet ist. Vielmehr ist ihre Digitalpolitik ein Produkt ihres unbedingten Machtwillens: kein Wert, keine Vision, keine unpassierbare rote Linie, die nicht verhandelbar wäre.

Digitalpolitisch hat die Kanzlerin versagt

Dieser machttaktisch überaus erfolgreiche Politikansatz des Machterhalts um jeden Preis ist nicht nur bei der digitalen Vernetzung fatal. Sondern überall, wo Entscheidungen anstehen, die über den Tag hinaus wirken müssen. Überall, wo Fahren auf Sicht bedeutet, die Zukunft zu verspielen. Wo man situative Umfragen an Festnetztelefonen nicht als wichtigste Maßgabe der Politik betrachten darf. Was die von Angela Merkel angesprochenen "digitalen Chancen" angeht - bei einer seit neun Jahren regierenden Bundeskanzlerin kann man den Status quo als Produkt ihrer Politik betrachten.

Dabei gibt es ein bestimmendes Schlagwort der Merkelschen Digitalpolitik: Versagen. Natürlich muss man hier differenzieren. Und zwar zwischen mutwilligem und fahrlässigem Versagen. Fahrlässig ist etwa, seit vielen Jahren nichts Messbares erreicht zu haben, was die dringend notwendige Glasfaserverkabelung der Bundesrepublik angeht. Mutwilliges Versagen wird es dort, wo Merkel die Netzneutralität verkauft, im Tausch gegen ein bisschen Netzausbau. Kaum ein Bereich, in dem das Problem des Merkelschen Politikansatzes kristalliner zu Tage tritt.

Deutschland steht jetzt in Europa auf dem letzten Platz

Merkel hat durch die Nichtentscheidungen für Anreizsysteme, Zielvorgaben und angemessene Förderungen erreicht, dass Deutschland in Europa den letzten Platz belegt, was Glasfaseranschlüsse von Haushalten angeht . Den letzten Platz. Denn unter einem Prozent Verbreitung wird nicht gemessen, Deutschland ist gar nicht in der Rangliste, wo Portugal bei 67% Verbreitung steht, Bulgarien bei 56% und Russland bei 45%.

Wegen dieses politikbegünstigten Debakels, entstanden durch Merkels visionsloses Danebenstehen, soll nun die Netzneutralität abgeschafft werden. Bei gleichzeitigem Argumentieren pro Netzneutralität, was den Irrsinn abrundet. Merkel selbst begründet das praktisch wortgleich mit Broschürentexten von Telekom, Vodafone und Co.: Es müssten aus Gründen der Verlässlichkeit "Spezialdienste" geschaffen werden. In der "Süddeutschen Zeitung"  hat Pascal Paukner ein wunderbares Sprachbild für die Absurdität dieses Vorhabens gefunden: Erst lässt man die öffentlichen Straßen verkommen, dann fordert man den Bau von Privatstraßen für Krankenwägen aus Sicherheitsgründen.

Die Quatschgesetze gefallen vor allem den Lobbyisten

Dahinter steht aber nicht nur Versagen aus Visionsmangel. Vielmehr mündet bei Angela Merkels Digitalpolitik das Versagen auffällig oft in lobbyorientierter Politik. Fast alle herausragenden Entscheidungen zur digitalen Sphäre hat Merkel in Übereinstimmung mit den mächtigsten Konzern-Lobbygruppen des Landes getroffen. Lehrstückhaft ließ sich das beim Leistungsschutzrecht verfolgen, das nichts, nichts, nichts ist außer einem vermeintlichen Gefallen an Presseverleger, allen voran Axel Springer. Von Angela Merkel entschieden zu einem Zeitpunkt, als der Bruder ihres damaligen Kanzleramtsministers Eckart von Klaeden zufällig der Leiter Regierungsbeziehungen des Axel-Springer-Verlags  war.

Nicht nur, dass das gegen Google gerichtete Leistungsschutzrecht von fast allen unabhängigen Netzexperten und Urheberrechtsprofessoren als hanebüchener Unfug gesehen wird. Es zeigt auch, wie fatal Merkels digitale Quatschgesetze bewirken, dass Notwendiges unterbleibt. Denn natürlich ist eine zukunftsfähige Regulierung digitaler Märkte überfällig. Selbst hinter dem Leistungsschutzrecht stehen ernsthafte, wirklich vorhandene Probleme. Nur wirkt die Merkel-Lösung doppelt kontraproduktiv: Faktisch begünstigt das Merkel-Springersche Anti-Google-Gesetz  sogar Google.

Der allgemeine Zustand des digitalen Deutschland nach fast einer Dekade Merkel wird perfekt abgebildet durch eine Statistik: Bei der Internet-Sachkunde der Bevölkerung (gemessen anhand von ausgeführten Internetaktivitäten) liegt Deutschland auf dem letzten Platz in der EU , gemeinsam mit Rumänien.

Die würdezersetzende Totalüberwachung als Nichtthema

Absurd aber wird Merkels Eingangssatz auf dem CDU-Parteitag, weil sie sich traut, in Bezug auf das Netz von der zu bewahrenden "Würde des Menschen" zu sprechen. Denn ihre Regierung ist aktiv dabei, die würdezersetzende Totalüberwachung zum Nichtthema zu machen. Der NSA-Untersuchungsausschuss des Parlaments wird behindert, die Verstrickung von BND und Verfassungsschutz heruntergespielt, Konsequenzen werden nicht gezogen.

Dahinter steckt Merkel-Methode, denn die bewiesene Totalüberwachung der Welt mithilfe des Internet hat für Angela Merkel nur zwei Ebenen: die der Grundrechte, die ihr an den ausbleibenden Taten gemessen offensichtlich egal ist, und die der Sicherheitsmaschinerie, die Merkel beinahe bedingungslos unterstützt.

Und das von Beginn an. Obwohl die westlichen Geheimdienste schon lange weitgehend ohne Rücksicht auf altmodische Verfassungen agieren, liegt die gegenwärtige, radikale Eskalation im 11. September begründet. Aber nicht nur die: Soeben wurde der Folterbericht über die CIA veröffentlicht. Die Systematik dieser absichtlichen Abkehr von der Zivilisation offenbart, dass die USA in der ersten Dekade dieses Jahrtausends von Monstern regiert wurden. Allen voran George W. Bush und Dick Cheney.

Merkels Verhalten zur doppelten Schande

Es lohnt sich sehr, Angela Merkels politisches Verhalten zur Entstehungszeit dieser doppelten Schande - Folter und Totalüberwachung - zu analysieren. Wäre sie nicht erst 2005, sondern schon 2002 Bundeskanzlerin geworden - Deutschland wäre in den Irakkrieg gezogen. In sensationeller Anbiederung stimmte Merkel im Februar 2003 in der "Washington Post" in das Kriegsgeheul derjenigen ein, die heute als Beweisfälscher zu Kriegszwecken, Folterer und Totalüberwacher entlarvt sind.

Das entscheidende Zitat des Artikels: "Verantwortliche politische Führung darf niemals den wirklichen Frieden der Zukunft gegen den trügerischen Frieden der Gegenwart eintauschen." Merkel schafft es, einen kommenden Krieg als "wirklichen Frieden der Zukunft" umzudeuten. Das ist eine "Krieg ist Frieden"-Formulierung erster Güte, Orwell dürfte sich noch 53 Jahre nach seinem Tod im Grab geärgert haben, dass ihm eine so geschmeidige Umdeutung nicht eingefallen ist.

In der dazugehörigen Rede im Bundestag  zieht sie mehr als alle verfügbaren Register, um die rot-grüne Regierung für die Nichtteilnahme am Irakfeldzug zu geißeln: Jesus, Auschwitz, 11. September, am Ende muss man froh sein, dass Merkel keinen Schuh nach Gerhard Schröder wirft und mit der Sprengung des Mondes droht.

Fortschritt: Früher lief Merkel auf dem Holzweg, heute fährt sie

Diese Verhaltensweisen können und müssen Angela Merkel auch heute noch vorgehalten werden - nicht nur, weil sie ein Zeichen dafür sind, dass sie in ihrer radikalen, gegenwartsverhafteten Situationspolitik kein Gespür für die Zukunft hat und haben möchte. Sondern auch, weil sie zeigen, dass Angela Merkel für erhofften politischen Profit alles andere verkauft. Damals wie heute.

Denn da ist statt eines Lernprozesses nur ein Effizienzprozess in die falsche Richtung zu erkennen. Früher lief Merkel auf dem Holzweg, heute fährt sie, und morgen wird sie die Tour mit dem Elektroauto auf der Holzautobahn als Fortschritt verkaufen. Netzneutralität ist keine Netzneutralität, Krieg ist "wirklicher Frieden der Zukunft", und genau deshalb darf man sehr gespannt sein, was Merkel mit der Bewahrung der Würde des Menschen beim digitalen Fortschritt vorhat.

tl;dr

Eine weitere Dekade Merkel würde eine weitere Dekade deutschen Digitaldebakels bedeuten.