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Ein rätselhafter Patient Unter Druck

Ein 30-jähriger Soldat kommt mit starken Schmerzen in die Notaufnahme. Die Ärzte erfahren, dass in seinem Blut verformte Zellen kreisen. Doch ehe sie die richtige Diagnose stellen, verschlechtert sich der Zustand des Patienten.
Sichelzellen im Blut: Verformte und normale rote Blutkörperchen (Illustration)

Sichelzellen im Blut: Verformte und normale rote Blutkörperchen (Illustration)

Foto: Corbis/ Science Picture

Seit einem Tag hat der 30-jährige US-Amerikaner heftige Beinschmerzen. Wenn er sich bewegt, nehmen sie zu. In diesem Zustand kommt er in die Notaufnahme der Rosalind Franklin University of Medicine and Science in North Chicago im US-Bundesstaat Illinois.

Seinen Ärzten erzählt er, dass er zu Beginn seiner Zeit bei der US-Navy erfahren hat, dass bei ihm eine genetische Besonderheit vorliegt: Ein Teil des im Erbgut vorhandene Bauplans fürs Hämoglobin, das den Sauerstoff im Blut transportiert, ist verändert. Bei Menschen, die zwei dieser veränderten Genkopien in sich tragen, bricht die sogenannte Sichelzellkrankheit aus. Verformte rote Blutzellen blockieren die Gefäße, den Patienten drohen Thrombosen, und sie leiden unter Blutarmut. Die Krankheit gefährdet eine ganze Reihe von Organen.

Nach drei Wochen Grundausbildung klagt der Mann über anhaltende stechende Schmerzen im linken Schienbein. Sie überkamen den Soldaten plötzlich, wenn er die erste Runde seines täglichen Trainings absolvierte, sodass er aufhören musste. Noch kurz zuvor hatte der Rekrut das vorgeschriebene Sportprogramm problemlos gemeistert - und als seine Beschwerden begannen, war das Wetter nicht zu warm, er hatte ausreichend getrunken und trug angemessene Sportkleidung.

Am nächsten Tag werden die Schmerzen stärker

Als die Ärzte in North Chicago ihren Patienten untersuchen, ist der einzige schmerzhafte Punkt in der Mitte des linken Schienbeins, berichten Ali Ridha und seine Kollegen im Fachmagazin "The Lancet" . Im Blut fällt ein deutlich erhöhter Wert auf, der Probleme in der Muskulatur anzeigt. Eine Röntgenaufnahme und eine Computertomografie des Beins liefern allerdings keine Hinweise auf ein Problem.

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Um die Schmerzen des Mannes zu behandeln, wird er auf eine Akutstation aufgenommen. Die Ärzte vermuten, dass der Patient, obwohl nur eine seiner beiden Genkopien für Hämoglobin von der Sichelzellveränderung betroffen ist, an einer sogenannten Sichelzellkrise leidet, dass also in seinem Bein Thromben kleine Gefäße verschließen und so die Schmerzen in der Muskulatur verursachen. Der Mann bekommt Flüssigkeit, Schmerzmittel und Sauerstoff über eine Nasenbrille.

Am nächsten Tag werden die Schmerzen noch stärker. Weitere Schmerzmittel können die Beschwerden nicht lindern. Die Haut am Schienbein ist gespannt und glänzt, Druck verstärkt den Schmerz noch. Gleichzeitig nimmt der Patient am betroffenen Bein eine Nadelspitze auf der Haut und leichte Berührungen nicht richtig wahr, seine Fußgelenke kann er nicht mehr richtig bewegen. Der Blutwert, der einen Muskelschaden anzeigt - die Kreatininkinase -, steigt weiter.

Orthopäden bestätigen den Verdacht

Zu Rate gezogene Orthopäden bestätigen den Verdacht, den die Ärzte jetzt haben: Der Mann hat ein Kompartmentsyndrom. Dabei steigt der Druck in einer Muskelloge, in der mehrere Muskeln von Bindegewebe - einer Faszie - umgeben sind. Die Faszie gibt dem Druck nur wenig nach, steigt er weiter an, nehmen Nerven, Gefäße und Muskulatur Schaden und der Patient leidet unter starken Schmerzen. Als Behandlung muss die Muskelloge vom Chirurgen geöffnet werden, was bei dem Patienten umgehend geschieht. Sofort lassen die Schmerzen nach.

Das wegen des Drucks teilweise abgestorbene Gewebe muss in zwei weiteren Operationen weiter entfernt werden, bevor die Chirurgen die Wunde nach zehn Tagen wieder schließen können.

Die defekte Genkopie für den Hämoglobinbestandteil, das sogenannte Beta-Globin, kommt bei schwarzen US-Amerikanern und in Westafrika häufiger vor als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Normalerweise verursacht nur eine fehlerhafte Kopie keine Probleme. Im Gegenteil: Träger sind vor schwerer Malaria geschützt, weil sich die Malariaerreger in den veränderten Erythrozyten nicht vermehren können.

Doch auch bei Trägern nur einer veränderten Genkopie ist bei körperlicher Anstrengung die Muskulatur gefährdet, weil sie mehr Flüssigkeit verlieren als Gesunde. Wird dann die Muskulatur zerstört, in der Fachsprache als Rhabdomyolyse bezeichnet, weil das Blut zu konzentriert ist, kann es anschließend zum Kompartmentsyndrom kommen. Wird der steigende Gewebedruck nicht erkannt, droht den Patienten der Verlust von Beinen oder Armen. Der US-Soldat dagegen kann nach knapp drei Wochen das Krankenhaus wieder verlassen und hatte seitdem keine Beschwerden mehr.